Erstellt am: 26. 4. 2016 - 07:57 Uhr
Irgendwo dazwischen
Senthuran Varatharajah hat 2014 einen Auszug aus dem Romanmanuskript beim "Bachmannpreis" gelesen und dafür den 3SAT-Preis gewonnen. Interessant zu sehen, dass er seither einige Änderungen vorgenommen hat, vor allem bei denNamen der ProtagonistInnen.
Junge AutorInnen greifen bei der Stoffsuche vor allem auf ihr eigenes Leben und ihre Erfahrungen zurück. Bei Senthuran Varatharajah ist das nicht anders, und er versucht auch gar nicht, das zu verbergen. Seinen Protagonisten Senthil Vasuthevan stattet er nicht nur mit seinen eigenen Initialen, sondern auch mit einer ähnlichen Biographie aus, bevor er ihn in die Handlung seines Romans "Vor der Zunahme der Zeichen" entlässt - mit einem Pling, dem Geräusch einer ankommenden Facebook-Nachricht.
APA/GERT EGGENBERGER
Varatharajah hat seinen Debütroman als Facebook-Chat zwischen seinem scheinbaren Alter Ego und einer gewissen Valmira Surroi, die in seinem Profil unter "Personen die du vielleicht kennst" aufgepoppt ist. Aus einem belanglosen Chat darüber, ob man sich schon irgendwo getroffen haben könnte, wird bald ein sehr persönlicher Austausch über ihre Leben und Erfahrungen.
Brüchige Identitäten
Denn Senthil und Valmira haben eine Sache, die sie verbindet. Sie sind Flüchtlingskinder. Senthils Familie ist vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka geflohen, Valmiras vor dem Krieg im Kosovo. Und obwohl beide den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, dort zur Schule gegangen sind und es sogar an die Uni geschafft haben, haben sie nicht das das Gefühl, dass sie richtig angekommen sind. Denn so ein Gefühl lassen "die Deutschen" gar nicht zu, sondern verweisen sie stattdessen immer wieder auf deren "wirkliche Heimat".
Schnell wird klar, dass Senthils und Valmiras Biografien voller schwer zu kittender Brüche sind, negativer Erahrungen und Schuldgefühle. Dass sie trotz ihrer Anstrengungen und Leistungen immer Fremde bleiben sollten, wurde ihnen und ihren Familien in unzähligen Erfahrungen beigebracht: ArbeitskollegInnen, die sie umbenennen, weil ihre Namen "unaussprechlich" seien; SupermarktmitarbeiterInnen, die sie wegen ihres Akzents wie Kinder behandeln; die Kindergartentante, die sie keine Menschen mit dunkler Haut malen lässt, sondern ihnen stattdessen den Buntstift in "Hautfarbe" in die Hand drückt.
Sprache schafft Wirklichkeit
S. Fischer Verlage
"Hautfarbe" - als Farbe der menschlichen Haut oder als Bezeichnung für die Farbe eines Farbstifts. Genau auf solche Doppeldeutigkeiten, die Wirklichkeit schaffen, legt Senthuran Varatharajah seinen Finger. "Vor der Zunahme der Zeichen" funktioniert nicht nur über den Inhalt, sondern vor allem über die Sprache.
Elendslange Sätze - eigentlich zu artifiziell für eine Facebook-Kommunikation - mit unzähligen Einschüben und Relativierungen loten die Grenzen der deutschen Sprache aus. Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse bringen einen zum Schmunzeln und Innehalten; so nennt Senthil die Asylantenheime, in denen sie unterkommen etwa immer "Asyllandheime", um ihnen eine positive Konnotation zu verpassen.
Mehr Leseempfehlungen auf fm4.orf.at/buch
Dass von Erinnerungen bis Identitäten alles von Sprache abhängig ist, würde man auch begreifen, ohne dass Varatharajah explizit auf linguistische und philosophische Unterstützung von Wittgenstein bis Saussure zurückgreift, doch er will ganz besonders deutlich machen, wieso es gilt, sich an der Sprache abzuarbeiten. Seine ProtagonistInnen sind nicht wirklich zuversichtlich, jemals irgendwo ankommen zu können, aber aus ihrer Position heraus, von den Rändern her, sind sie vielleicht in der Lage, die festen Zeichen und die Wirklichkeit aufzubrechen.