Erstellt am: 24. 4. 2016 - 14:46 Uhr
Lovers or losers?
Crossing Europe Filmfestival, noch bis inkl. 25. April, in Linz
Was ist das Los Europas, lautet eine doch recht poetische, zu Beginn des Crossing Europe gestellte Frage beim Crossing Europe. So weit geht dann doch keine Filmemacherin und kein Filmemacher, eine Version der Bestimmung eines Erdteils vorzuführen. Schon mit Bestandsaufnahmen ist man komplett beschäftigt. In sehr vielen Filmen der letzten Tage wird der Versuch unternommen, das politische Geschehen in privaten Beziehungen festzumachen. Gute, heftige Unterhaltung.
„What would be the nation of two?“
Thessaloniki, Dublin, Talinn und Sevilla. In diesen Städten hat der Schweizer Regisseur Jan Gassmann jeweils ein Paar neun Tage hindurch mit der Kamera begleitet: „Europe, she loves“ ist ein Dokumentarfilm, den man ohne besseres Wissen für einen Spielfilm hält. Bis zur ersten Sexszene, die ist ja auffallend wenig inszeniert! Auch, was die Drehzeit anbelangt, würde man sich verschätzen.
Veronika hofft, dass Harri ihren ersten Sohn aus einer anderen Beziehung auch annimmt und nicht nur das gemeinsame Baby liebt. Penny will nach Italien, aber der gutmütige Nicolas ist ein Kümmerer und hätte nichts gegen Kinder. Karo will ihren Master machen, ihre Gelegenheitsjobs sind so unsicher wie Juans Zuneigung. Terry ist abhängig von Drogen, Computerspielen und nicht zuletzt von Siobhan, die noch auf die Reihe kriegt, die Wäsche aufzuhängen, an Essen zu erinnern und ein Sozialleben aufrechtzuerhalten.
2:1 Film
„Europe, she loves“ ist kein trister Film. In die Geschichten montiert sind Szenen aus diversen europäischen Ländern, zum Sound mischen sich Fetzen aus Radionachrichten. „Europe is such a fragile construction“, hört man, und der Papst spricht von disgrace und bezieht sich auf die vielen toten Menschen im Meer vor Lampedusa. Rosig ist die höchste der Stimmungen auch in den Beziehungen. Wie geht es zu in einer Nation bestehend aus zwei Personen? „What would be the nation of two?“ war Jan Gassmanns Interesse. Verhandlungen stehen bald an der Tagesordnung.
Schaut es tatsächlich so aus in Europa? Fragile Beziehungen, die Haushaltsfinanzen stets am Kippen in die Armut? Jan Gassmann erklärt beim Gespräch nach der Vorführung, ihm seien die Paare als Mittelklasse erschienen. Das schockiert. Kann das sein? Check Durchschnittsgehälter in Ländern der Europäischen Union. Zusammen ist heute nur noch ein Paar, in Talinn ist man heute tatsächlich eine Familie.
"I want nothing more."
Ein ästhetisch sehr ähnliches Konzept wie Jan Gassmann verfolgen die FilmemacherInnen von „When the earth seems to be light“ und setzen auf atmosphärische Beobachtungen. Auch in diesem Film driftet das Publikum in einen Alltag, kommt einfach mit mit den ProtagonistInnen, die diesmal eine Gruppe männlicher Jugendlicher in Tiflis sind. Ihre und Georgiens Gegenwart kreuzen sich. Ohne sich groß darüber klar zu werden, leben diese jugendlichen Skater Widerstand zu Orthodoxie und Regierung. Neben einer Ikone hängt eine „Fuck“-Stencil-Schablone in einem Zimmer voller gemalter Bilder und Grafiken. Die Haare tragen die meisten Burschen lang wie Mädchen, in den montierten Zwischensequenzen aus Fernsehbildern wollen orthodoxe Priester die erste Gay Parade in Georgien wortwörtlich niederschlagen. Filmemacher David Meshki entschuldigt sich vor dem Screening: "It's not a film about skateboarding but I hope you'll stay until the end."
Dabei sind dann gar nicht so wenige Tricks zu sehen. Mit den Jugendlichen tritt man in ein Zeit- und Raum-Refugium, das sich eigenwillig aus der Gegenwart des Landes enthebt und doch mitten im Hier und Jetzt stattfindet. "I love being in this day so much, this surrounding. I want nothing more." Mit den Skateboards geht es durch Unterführungen, in verlassene Prunkbauten - ein High-Five bei einem Sprung mit der Steinfigur eines Reliefs -, des Nachts in den Vergnügungspark und am Tag in den Botanischen Garten in Batumi. Ab und an stellt Salome Machaidze Fragen. Hast du eine Leidenschaft? Was ist Liebe für dich? Oft reicht der Gesichtsausdruck als Antwort. Für manche Außenstehende wären die Porträtierten Angehörige einer "Lost Generation". Allein ihre Schönheit, das Leben zu leben, und ihre Innenwelt halten komplett dagegen. Freiheit? Dazu hat dann das einzige Mädchen im Film etwas zu sagen:
"I don't think that any person is absolutely free.
I don't know if absolute freedom exists.
For me, I can't really say. I don't think I've ever been free.
Or maybe I am free but unable to tell. I can't really identify such feelings."
– "Do you expect miracles to happen like in the movies?" –
"Anything is possible. I hope it happens because that's what I'm waiting for. I wish it would happen. It's one of my dreams to witness something that surprises everyone but me."
Goslab Collective
Das hat der Individualist nicht am Radar
Über Realitäten anderer wüsste auch der belgische Filmemacher und Anthropologe Laurent von Lancker viel zu berichten. Macht er in "Brak" ("Fallow") aber nicht. Laurent von Lancker engagiert sich für Geflüchtete, er ist oft im immer wieder geräumten Flüchtlingslager in Calais gewesen. Doch statt einer Doku hat er einen sich lohnenden Spielfilm mit dem Budget eines Kurzfilms an realen Orten realisiert. Es ist eine scheinbar kleine Geschichte über die Macht des Geldes und Verrat - mit einem Ende, das die Wucht ist.
Ein Mann mit rotblondem Haar steht in schäbiger Kleidung am Meer. Im Meer. Das Bild des Ins-Wasser-Gehens aus der Malerei taucht auf, der Selbstmord aber wird nicht begangen. Stattdessen folgt der Mann einer wunderschönen Frau. Es könnte eine Liebesgeschichte werden. You wish. Die wunderschöne Frau, die sich prostitutiert, ist stumm und der Mann will weiter, über das Meer und nach Norden. Als er sie beschuldigt, sein Erspartes stehlen zu wollen, gibt sie ihm all ihren Schmuck, selbst den Nabelpiercingring. Er reicht ihren Pass den Schleppern.
Die Festung Europa sei nur der Background, sagt van Lancker nach dem Film. Er wollte einen Film über individualistische Denkweise machen. Der Individualist nimmt nicht wahr, dass kollektives Denken möglich ist.
Polymor Films
"Everybody wants to become an African in Europe"
Direkt aus einer selbst organisierten Lagerstätte kommt das herausragende Dokument "Les Sauteurs" ("Those who jump"). Mount Gurugu ist ein Anziehungspunkt für Menschen, die ihre afrikanischen Heimatländer hinter sich lassen wollen und auf einen Grenzwall und das dahinter liegende Europa blicken. Abou Bakar Sidibé ist einer der Männer, die zwischen wilden Eseln und streunenden Hunden lagern und aus Müll ihr Essen und ihr Hab und Gut fischen.
Die streunenden Hunde sind ihre Freunde, des Nächtens kämen Dämonen auf den Berg, die Hunde schlagen Alarm. Die marokkanische Polizei setzt Zelte in Brand und wirft Reisvorräte ins Feuer. Über Monate unternehmen die Männer Versuche, die dreifachen Grenzzäune zu überwinden und sehen "Brothers" sterben. Auf den Bildern der Nachtsichtgeräte sind sie kleine Punkte. "Everybody wants to become an African in Europe", singt einer der Männer, die einander immer wieder Mut machen.
Wide House
Wide House
Abou Bakar Sidibé hat "Les Sauteurs" gedreht. Zwei Dokumentarfilmer haben ihm die Kamera gegeben. Anfangs überzeugte ihn das gebotene Honorar. Bald aber ändert sich seine Perspektive. "I feel that I exist when I film", hält der Mann aus Mali an einer Stelle fest. Ein anderer flickt zu Beginn dieses großen Dokuments einen Plastikeimer. Die Polizisten hätten seinen Maßbecher kaputt gemacht. Nein, man hat keine Ahnung, man kann das alles nicht nachempfinden. Aber man kann hinsehen. Und am Ende erhascht man den Ausdruck in den Gesichtern der spanischen PassantInnen in Melilla viel zu kurz, als sich Männer aus Mali unter sie mischen.
Definier' dich
In der Linzer Landstraße singt Samstagnachmittag ein Alleinunterhalter mit E-Piano Fendrichs "I am from Austria". Im OK befragt Dominik Tschütscher von Cinema Next drei Filmschaffende nach ihrem Heimatbegriff. Wer sei schon Syrer, fragt sich Khaled Mzher, der in Damaskus aufgewachsen ist. So viele Volksgruppen, so viele unterschiedliche religiöse und politische Zugehörigkeiten gibt es in seinem Geburtsland. EuropäerInnen könnten dagegenhalten: An den Außengrenzen zählt der Pass.
Radio FM4 / Maria Motter
Wie weitermachen?
1995 beendet das Abkommen von Dayton den Bosnienkrieg. Aber wann ist ein Krieg vorbei? Milena ist über fünfzig, sie achtet auf ihr Äußeres und auf das Familienhaus. Sie kocht und ermuntert und ist „Dobra žena“ („A Good Wife“), bis sie beim Putzen eine alte Videokassette findet, auf deren Band das Familienidyll von einem Kriegsverbrechen unterbrochen wird.
Beim Sundance Festival hatte „Dobra žena“ („A Good Wife“) vor wenigen Wochen Premiere. Mirjana Karanović ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen Serbiens, sie hat in 85 Filmen mitgewirkt. „A Good Wife“ ist ihr mitreißendes Regiedebüt, in dem sie auch die Hauptrolle hat. Mirjana Karanović und ihre Tochter, die Filmproduzentin ist, waren in Linz zu Gast. Koproduziert hat das Drama Jasmila Žbanić, in deren „Grbavica“ Mirjana Karanović die Hauptrolle hatte. Will man von Krieg erzählen, müsse man den Spuren des Geldes folgen, sagte Žbanić. "A Good Wife" ist ein großer, politischer Film über Serbien und über die Verantwortung und nicht zuletzt Macht jedes Einzelnen.
This And That Productions
"Ich flipp' aus!"
– "Nicht ausflippen! Entspannen!"
Die Worte des Polizeilehrers in "Die Staatsdiener" von Marie Wilke passen so gut zum Crossing Europe. Was man am Festival sieht, ist von einer Dimension, die durchaus zu Resignation führen könnte. Wie fucked up ist dieses Europa, wie kaputt die Gesellschaften. Wie gern man sich mit Schwarz-Weiß-Denken weiterhilft, zeigen die Publikumsreaktionen im Screening von "Die Staatsdiener", einer Doku über Polizeiausbildung in Deutschland.
Kundschafter Filmproduktion
Es wird erleichtert gelacht, wenn die PolizistInnen in Übungssituationen Kommandos folgen und in ihrer vollen Schutzmontur behäbig wirken oder sich über den Knall einer Pistolenkugel erschrecken. Aber bei den mitgefilmten alltäglichen Einsätzen dreht sich der Zuschauerblick. Prügelnde Alkoholiker, Messer in Rücken, nackte Randalierer und Rechtsextreme. Auch Marie Wilke weiß und macht klar, wieviel Grau möglich wäre und schon will man nochmal auf die Recherchen zu "Der Kuaför aus der Keupstraße" verweisen.
Rosig ist angesichts all dieser Aufnahmen eine äußerst annehmbare Stimmung und ein Skateboard eine gute Investition.