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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

22. 4. 2016 - 13:42

Was geht da ab

Ein schauriges Sci-Fi-Märchen, sinnentleertes Posen in Spielfilmlänge und ein Skandal, der nicht übersehen werden darf: Das Crossing Europe wünscht störungsfreie Projektion.

Crossing Europe,
20. bis 25. April, Linz

Wie ist eigentlich aus den Fischen die Mathematik entstanden? Das hat sich der österreichische Künstler Peter Weibel vor einigen Jahrzehnten in einer kleinen Skizze gefragt. Lucile Hadžihalilović hätte dazu eine Geschichte zu erzählen und einen Film als Antwort. „Evolution“ heißt ihr zweiter Spielfilm, der unter Wasser beginnt. Ein Bub taucht und entdeckt einen toten Buben inmitten Korallen und mit einem roten Seestern auf dessen Bauch. An Land wird die Geschichte mysteriös.

Der Bub Nicolas läuft über schwarzen Kieselsteingrund nach Hause, in eine Siedlung weiß gekalkter Häuser. Blass sind auch die Frauen, die hier mit jeweils einem Buben wohnen, zum Essen ausschließlich Algenbrei kochen und den Kindern Medizin verabreichen. Ein Bett, ein Schreibtisch: Nur ein Notizheft besitzt Nicolas, in das er zeichnet. Die Skizzen zeigen Tiere und Gegenstände einer anderen Welt als seiner jetzigen. Eine Giraffe, eine Katze, ein Riesenrad. Dann den toten Buben und eine Frau mit lockigem Haar. Die Sympathie ist eindeutig auf Seite des Buben. Mit ihm wächst das Misstrauen gegen diese Frauen.

Ein Bub taucht im Meer

Wild Bunch

"Evolution" isn't quiet under water love.

Düstere Robinsonade

Die Bilder sind schön, die Entwicklung in „Evolution“ zunehmend schaurig. Gern würde man wieder abtauchen und die Korallen nochmal schaukeln sehen. Lucile Hadžihalilović, die beruflich eng mit ihrem Lebensgefährten Caspar Noé zusammenarbeitet, zeigt ein Faible für Schauergeschichten, die auf bizarren und überholt gedachten Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern basieren. Der Bub Nicolas schleicht sich nachts aus dem Haus und sieht, was er nicht sehen darf. Die Frauen haben Saugnäpfe wie bei Kraken an ihren Rücken und züchten in einem Hospital Leben. Genau dazu brauchen sie die Knaben.

Filmstill aus "Evolution": Eine altmodisch gekleidete Krankenschwester mit Häubchen am Kopf verarztet einen Buben in Badehose, der am Strand auf einem Stein sitzt. Eine Frau schaut zu.

Wild Bunch

Geschichten, die Kinder in Versuchsanstalten führen und sie in Betten mit Infusionen ketten, enden selten gut. Doch Hadžihalilović stellt diesem Kindercharakter eine junge Krankenschwester mit Botticelli-Gesicht zur Seite. Am Ende der Spätvorstellung dieses eigenwilligen Dramas im Movie in Linz schütteln einige heftig die Köpfe. Andere interpretieren das Sci-Fi-Märchen über die biologischen Grenzen der Fortpflanzung. „Aber weshalb hat sie ihn im Meer geküsst?“ - „Weil sie unter Wasser atmen kann“. So einfach.

Ey, wie sinnentleert

Eine andere Vision, die entbehrlich ist, lief nachmittags im Wettbewerb beim Crossing Europe. „Uns geht es gut“ ist das Langspielfilmdebüt von Henri Steinmetz, der u.a. bei Haneke studiert hat. Haneke ziert zurzeit Briefmarken, die könnte man auf die teils grafisch tollen Postkarten kleben, die Filme hier in Linz bewerben. Eine beruhigende Tätigkeit nach „Uns geht es gut".

Zwei Postkarten liegen übereinander, eine zeigt ein Auto, das man ausschneiden und aus dem Papier bauen kann

Radio FM4

Haneke drauf und ab die Post: Roman Bondarchuck wirbt mit Postkarte für Ukrainian Sheriffs". Die Doku wird wie die erwähnten Filme noch einmal in Linz beim Crossing Europe gezeigt.

"Uns geht es gut" kurz gefasst: Ein schwer gestörter Typ mit Spitznamen Tubbie hängt fadisiert mit einer Kindfrau und seinen vier Jüngern ab. Klein- bis zunehmend kriminell ist er unterwegs, die anderen würden sich – so das möglich wäre – selber bei der Selbstinszenierung Ennui im öffentlichen Raum und in unbefugt betretenen Gebäuden zuschauen.

Eine Jugendliche in einem Spitzenkleid und vier junge Männer schauen geradeaus. Filmstill aus "Uns geht es gut"

X Verleih

Vielleicht noch jung, aber alles andere als schön: "Uns geht es gut" von Henri Steinmetz

Das Ganovenbräutchen trägt Schmollmund, rote Highheels und ein Spitzenkleid, einer der Jünger nur Unterhose und Blouson. In aneinandergereihten Dramoletten steigert sich anlasslose Gewalttätigkeit, sexuell aufgeladen ist der Typ danach. Nochmal, nochmal! Yo, eh. Es gibt noch eine Botox-Party, Schauplätze, die an den Berliner Club Wilde Renate erinnern und eine Szene, in der die Kindfrau in einem Swimmingpool von ihrer Menstruation überrascht wird. Lieblingszitat: „Tubbie, guck' hin, sie blutet den ganzen Pool voll.“

Wie fad ist denen im Hirn? Wie viele reale Fälle plötzlicher gewalttätiger Attacken gegen zuvor Unbekannte gab es im letzten Jahr etwa in Deutschland? Auch der Hauptdarsteller Franz Rogowski, der im Crossing-Europe-Hit „Love Steaks“ sein Schauspieldebüt gab, kann „Uns geht es gut“ keinen Mehrwert geben.

Ein langer Prozess

Andreas Maus hingegen lenkt die Aufmerksamkeit auf reale Personen und eine Geschichte, die trotz jahrelanger medialer Berichterstattung so noch nicht bekannt gemacht worden ist. Gestern ist in München der "NSU"-Prozess fortgesetzt worden: Angeklagt sind Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des rechtsextremen sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Zur Last gelegt werden ihnen zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und mindestens 15 Banküberfälle, begangen zwischen 2000 und 2007 in Deutschland. Acht der Ermordeten waren türkischer Herkunft, ein Mordopfer war ein griechischer Kleinunternehmer, ein weiteres Mordopfer eine Polizistin.

Ein türkischer Mann steht in seinem Friseursalon in Köln. Filmstill aus "Der Kuafoer aus der Keupstrasse"

Coin Film

"Der Kuaför aus der Keupstraße" von Regisseur und Jornalist Andreas Maus

Als Opfer zweiter Klasse fühlen und bezeichnen sich Verwandte des "Kuaför aus der Keupstraße" in Köln. Am 9. Juni 2014 war vor dem türkischen Friseursalon eine Nagelbombe gezündet worden. Menschen wurden schwer verletzt und überlebten. Wer den Anschlag verübt hatte, war jahrelang Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Und diese Nachforschungen richteten sich über Jahre auch gegen den Besitzer des Salons und dessen Familie.

Dem Rechtsstaat vertraut

Zwei verdeckte Ermittler waren auf die Familie Yildirim angesetzt, das gesamte Leben wurde durchleuchtet. Ein Juwelier aus der Straße wurde bezichtigt, der Mafia anzugehören und an dem Terrorakt beteiligt gewesen zu sein. Das berichtet der Regisseur Andreas Maus, der als Journalist zu diesem Attentat recherchierte. Im Film inszeniert er Passagen aus Vernehmungsprotokollen mit Schauspielern und lässt die Ladenbesitzer und AnrainerInnen der Keupstraße zu Wort kommen. Die Doku verzichtet auf schnelles Tempo und ist ein gutes Pendant zur ARD-Spielfilm-Trilogie "Mitten in Deutschland" nach dem Prinzip Wie-es-gewesen-sein-könnte. Trotzdem hat man den Eindruck, dass vieles ungesagt bleibt. Welche Folgen diese Verfolgung durch die Polizei auf die Betroffenen haben, könnte man an ihrer Zurückhaltung ablesen. Medial am Jahrestag des Anschlags überrannt, äußern sie sich vorsichtig.

"Die meisten der Ermittler arbeiten noch heute, so sie nicht in Ruhestand gegangen sind", sagt Andreas Maus beim Gespräch nach der Österreichpremiere. Der Film stehe als Beispiel für den Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen. Institutioneller Rassismus habe von vornherein bestimmte Ermittlungen ausgeschlossen, sagt Maus. Im Film nicht zu Wort kommen die Frauen der Friseure und Barbiere: Sie kommen aus türkischen Familien und sind in Deutschland geboren, weiß Maus. Die Ehefrauen hatten über Jahre die Mittlerrolle zwischen den Behörden und ihren aus der Türkei zugezogenen Männern übernommen. "Es gab zwei Bomben", sagt eine Anrainerin der Keupstraße im Film: "Die eine mit den Nägeln und die andere war der Rechtsstaat, der nicht funktioniert hat. Das war eigentlich die größere Bombe".

Der Wunsch der Saalregie für eine störungsfreie Projektion, geäußert vor einem anderen Film, hat danach eine andere Dimension. Milde waltet gegenüber Popcornchips-Hamstern, Vordersitz-TreterInnen (bei einer Beinfreiheit im Movie, die man bei Fluggesellschaften nicht mal mehr gegen Aufpreis bekommt) und KommentatorInnen sowie Hobby-Synchron-Übersetzern. Die Feuerschutztüren im OK knallen, wenn jemand mitten in Vorstellungen den Kinosaal verlässt.