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Nermin Ismail

Politik. Menschenrechte und alles, was mit Menschen zu tun hat. Hinhören und nachfragen.

21. 4. 2016 - 11:14

Verlorene Kinder

10.000 Flüchtlingskinder sind laut Europol in Europa nicht mehr auffindbar. Sie sind unbegleitet eingereist und nun vom Radar einzelner Länder verschwunden. Wo die Kinder sein könnten und warum eigentlich keiner den Überblick hat.

Endlich in Europa angekommen, und schon hat sich ihre Spur verloren. Das Problem: Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne Eltern in Länder der EU eingereist sind, sind im System nicht mehr auffindbar. Niemand weiß, wo sie sind und warum sie verschwunden sind. Ende Jänner veröffentlichte die europäische Polizeibehörde Europol eine vorsichtige Schätzung, um auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Im April hat Deutschland konkrete Zahlen geliefert. Das Bundesinnenministerium berichtet von fast 6.000 Kindern, davon 555 unter 14 Jahren, die in Deutschland als vermisst gelten. "Die Kinder, die in den letzten Monaten angekommen sind, wurden teils kaum registriert, teils doppelt registriert und sind quer durch europäische Länder gereist. Das ist gefährlich, weil die Kinder dadurch leichter Verbrechen zum Opfer fallen können. Weil man nicht einmal weiß, wo sie sind", erklärt Ruth Schöffel, Sprecherin von UNHCR in Wien.

Refugee children at the coast near the open refugee camp of Souda

APA/AFP/Louisa Gouliamaki

Keine Nachforschungen - keine klare Zuständigkeit

Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) ist das Innenministerium zuständig. Die Kinder kommen unter anderem aus Afghanistan, Syrien, Irak, Marokko und Algerien. Manche haben ihre Familie am Weg nach Europa oder in Europa verloren, andere haben ihre Eltern im Heimatland verlassen.

Das Bundeskriminalamt in Österreich evaluiert die Zahl der vermissten Minderjährigen. Diese Zahl beläuft sich momentan auf ungefähr 450 minderjährige Nicht-EU-Bürger. Ob es sich dabei um unbegleitete Flüchtlinge handelt, darüber kann das Bundeskriminalamt keine Auskunft geben. Konkrete Hinweise auf kriminelle Handlungen gebe es keine, heißt es aus dem Bundeskriminalamt.

Die NGO "Asylkoordination" bemüht sich seit Jahren um die Anliegen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich. Katharina Glawischnig, Koordinatorin der "Arbeitsgruppe UMF", kann die Angaben des Bundeskriminalamtes nicht nachvollziehen. Sie schätzt die Zahl der vermissten Flüchtlingskinder viel höher ein: "Ich gehe davon aus, dass 2.500 bis 3.000 Kinder in Österreich verschwunden sind. Letztes Jahr wurden 9.331 Asylanträge durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gestellt. Mit dem Jahreswechsel befanden sich nur mehr rund 6.300 in der Grundversorgung", so Glawischnig.

Die meisten Kinder "verschwinden" in der Bundesbetreuung, ergänzt sie. Das liege an der unzureichenden Betreuung der Kinder in großen Erstaufnahmezentren, in denen sie oft gar nicht als Einzelpersonen wahrgenommen werden.

Verschwindet ein Kind in einer Einrichtung, wird außerdem nicht immer eine Abgängigkeitsanzeige erstattet. Das hängt oft davon ab, ob es sich um eine Unterkunft eines Bundeslandes oder des Bundes handelt: Verschwindet ein Kind aus einer Bundesbetreuungsstelle, wird es nach 48 Stunden von der Grundversorgung abgemeldet und es gibt keine weiteren Nachforschungen. Befindet sich das Kind jedoch in der Versorgung eines Bundeslandes, ist die Einrichtung verpflichtet, nach 24 Stunden eine Abgängigkeitsmeldung zu machen und die Kinder- und Jugendhilfe zu informieren.

"Ich kenne Fälle, in denen keine Anzeige erstattet wurde, und Fälle, wo sich niemand um das Kind Gedanken gemacht hat, auch wenn es am Abend vor der Tür einer Bundesbetreuungsstelle gestanden ist und gesagt hat, dass es wieder aufgenommen werden möchte", berichtet Glawischnig.

Ein Flüchtlingkind im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen

APA/HANS KLAUS TECHT

Erstaufnahmezentrum Traiskirchen im August 2015

2005 hat der Oberste Gerichtshof festgestellt, dass "ausländische Jugendliche" generell Recht auf Obsorge haben. Nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) ist die Jugendwohlfahrt der Bezirkshauptmannschaft dafür zuständig – in Traiskirchen also die Bezirkshauptmannschaft Baden. Doch diese beantragt Obsorge erst "bei Bedarf".

Außerdem haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erst nach sechs Monaten Anspruch auf einen Obsorgeberechtigten. "In dieser Zeit fühlt sich niemand rechtlich zuständig für die Kinder, die eigentlich Schutz und Hilfe bedürfen. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte eigentlich sofort tätig werden", erklärt die Juristin Glawischnig. Obwohl die Minderjährigen Recht auf Obsorge haben, fühlt sich in der Praxis keiner für sie verantwortlich.

Weitergereist, untergetaucht oder Opfer von Verbrechern

Das UNHCR geht davon aus, dass manche der verschwundenen Kinder weitergereist sind, weil sie woanders Familienmitglieder oder Verwandte haben. Viele werden in Österreich nicht aufgefangen, können sich niemandem anvertrauen und tauchen ab, um Geld zu verdienen, um sich eine Weiterreise leisten zu können bzw. Schlepper bezahlen zu können. "Wir befürchten aber, dass es auch zu Fällen kommt, wo Kinder ausgebeutet werden, Zwangsarbeiten verrichten müssen oder ihnen auch viel Schlimmeres passiert", meint Ruth Schöffel.

Die mangelnde Registrierung in einem einheitlichen System sorge für große Verwirrungen. Auch die fehlenden Ausweispapiere und die verschiedenen Schreibweisen der Namen sind problematisch. Auch existiere kein Rückkoppelungsmechanismus, sollte ein Kind in Österreich verschwinden und in Deutschland wieder auftauchen.

Deswegen fordert das UNHCR eine einheitliche Registrierung, eine engmaschige Betreuung und eine schnelle Familienzusammenführung. Mögliche Wege, um diesem Weglaufen und plötzlichen Verschwinden von Kindern und Jugendlichen entgegenzutreten, sind eine Normalisierung des Alltags und der Schulbesuch. Kinder, die eine lange Flucht hinter sich haben, bringen viele Traumatisierungen mit. Ohne intensiv betreut zu werden, ist es für sie schwierig, wieder ein normales Leben zu führen.

10.000 Kinder und die Konsequenzen

Interview mit Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich.

Ob die Kinder nun weitergereist sind, bei Verwandten untergekommen sind oder in kriminelle Hände geraten sind – ganz genau weiß es keiner. Eine parlamentarische Anfrage der grünen Abgeordneten Alev Korun soll nun ein wenig Licht in die Sache bringen. Am 13. Juni läuft die Frist für die Behandlung im Parlament ab. Dann sollten mehr Details bekannt werden.

"Im Moment sind die Grenzen dicht, viele Kinder stecken in Griechenland fest", so Schöffel. Menschenrechtsorganisationen und NGOs appellieren an die Behörden, die Kinder prioritär zu registrieren und so schnell wie möglich mit ihren Familien zusammenzubringen. Denn die prekären Bedingungen, unter denen Tausende Kinder seit einiger Zeit leben, bringen langanhaltende Traumatisierungen mit sich. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes verloren, denn, kommen sie an, fühlt sich keiner für sie verantwortlich, und wenn sie nicht ankommen, vermisst sie ebenso keiner.