Erstellt am: 21. 4. 2016 - 12:42 Uhr
Bis in die Nervenenden
Crossing Europe Filmfestival,
20. bis 25. April, Linz
"Got to get on with life now", sagt mein Sitznachbar ungefragt und unmittelbar nach "Krigen/A War". "Think it was pretty good". "Yea", muss als Antwort genügen. Kurz nach dem Abspann hat der Sitznachbar ein langes Mal ausgeatmet. Bedacht atmen, um Fassung wieder zu erlangen, das war eben auch der Trick in aufwühlenden Szenen: "Krigen/A War" war für den Best-Foreign-Film-Oscar nominiert und ist einer der sechs Eröffnungsfilme des Crossing Europe in Linz. Krieg ist in fünf dieser Filme – Dokus und Spielfilme – entweder Schauplatz, Nebendarsteller oder drohende Wendung.
Radio FM4
"Europe, what is your destiny?", gibt Michael Stütz (Programmkoordinator "Panorama" der Berlinale) bei der Eröffnung als Ko-Moderator an der Seite der Crossing-Europe-Intendantin Christine Dollhofer als Fragestellung für die kommenden Tage aus. "Das große Projekt Europa ist ins Schwanken geraten", so Dollhofer. Gesellschaftspolitisch brisante Debüts und Zweitarbeiten zeigt sie bei Crossing Europe. Junges, aufregendes, europäisches AutorInnenkino, das die Weite dieses Europas gern auch drastisch vor Augen führt.
Gleich mal zum Beispiel in Afghanistan. Denn die Entscheidung fällt am ersten Abend für die Fiktion. Einmal "Krigen", einmal "Heimatfilm".
Was machen die Dänen in Afghanistan?
Die ersten Minuten hindurch ist es sehr still. Und diese Konzentration wird auf der Leinwand anhalten und im Zuschauerraum körperlich werden. Tobias Lindholm hat keine Soundtrack-Sauce über die Handlung gekippt. Die Kamera ist so sehr nah an den Menschen. Im Gänsemarsch folgt eine Gruppe dänischer Soldaten einem Kameraden, ein Minensuchgerät vor sich schwenkend geht er in der Landschaft voran. "We're going on patrol like moving targets", wird sich einer beschweren. Das Zuhause der AfghanInnen ist schlicht, ein Esel angebunden im Hof. Die dänischen Streitkräfte sind schwerst bewaffnet und zielen immer wieder auf Zivilisten, zu deren Schutz sie auch vor Ort sind.
Constantin Film Österreich
Realität sind Abschiebungen nach Afghanistan: Trotz Reisewarnungen für eigene BürgerInnen wollen europäische Staaten geflüchtete AfghanInnen in deren Heimatland bringen.
Aber Zuflucht vor den Taliban gibt es für die Bevölkerung keine am Militärstützpunkt im Irgendwo. Der Kompaniekommandant gibt einer Familie noch zwei Plastikflaschen mit Wasser und verspricht, die Taliban am nächsten Tag zu vertreiben. Zuhause in Dänemark beißt ein Schulkind ein anderes in die Schulter, sein Papa Claus M. Pederson fällt in Afghanistan beruflich Todesurteile. Die Einsilbigkeit seiner Kinder bei den Telefonaten, die gereichten Zigaretten in Momenten, wo andere jemanden umarmen würden – "Krigen" verfällt weder in Pathos noch in ein Riesenaufgebot an Action. Gerade deshalb ist der Spielfilm mitreißend und berührend. Man kann sich nicht entziehen. Man bleibt im vertrauten Alltag in Dänemark und hält sich an den Kommandanten im Ausland, tapst mit in die Unsicherheit und Unkenntnis der tatsächlichen Lage. Der gute Kerl, ja der Held wird zum Verlierer. "Krigen" läuft auf die Fragen hinaus, ob ein Leben mehr wert sein darf als ein anderes und wie weit Loyalität gehen kann.
"Krigen/A War" läuft ab Freitag in den österreichischen Kinos."
Hauptdarsteller Pilou Asbæk hat Conchita Wurst den Preis beim Eurovision Songcontest 2014 überreicht, er war der Kasper Juul in "Borgen". Ein Kollege aus der dänischen Erfolgsserie, Søren Dyrberg Malling, spielt in "Krigen" seinen Anwalt. Regisseur Tobias Lindholm war einer der Drehbuchautoren bei "Borgen". Wo der Dokumentarfilm keinen Zugang bekommt, kann die Fiktion ausholen und Realitäten kommentieren.
Die Schweiz abschalten
Eine düstere Vision spielt ein zehnköpfiges (!) Team junger RegisseurInnen in "Heimatfilm" durch: Die Schweiz wird zum Sperrgebiet.
Die Wolke da draußen sei nur der Anfang, prophezeit ein Vorstandsmitglied eines großen Versicherungskonzerns. Über der Innerschweiz wächst ein Sturm heran. Die Bundesregierung müsse schnell noch ein Rettungspaket verabschieden. Die Lichter gehen aus im Fußballstadion, in den Supermärkten voll Kunden auf Hamsterkauf und in den Massenställen, wo Kuh an Kuh an Kuh an den Melkmaschinen hängen. Kurz: Die Schweiz wird abgeschaltet. Zehn Geschichten erzählen von den Stunden vor dem Ausbruch des Sturms und bilden zugleich eine Bestandsaufnahme der heutigen Schweiz. Und sie sind besser geschnitten als Episodenfilme wie etwa "Paris je t'aime". Unglaublich, was mit zwei Wochenend-Klausuren und einer Dogma-Liste (Handkamera! Nur vorhandene Lichtquellen! Ton wie vor Ort!) möglich geworden ist. "Heimatland" ist abgesehen von diesem Stunt zu zehnt ein geglückter Film.
Angst im Abendland
Wieder ist es sehr still im Saal I des City Kinos. Einen weirden Drive in "Heimatfilm" muss man hinnehmen, wenn einer der Charaktere körperbezogen halluziniert. Ausgerechnet die Polizistin, die einen Afrikaner erstickt haben soll, küsst diesen leidenschaftlich. Das "Good bye blue sky"-Graffiti als Kulisse für den Streit eines jungen Paares ist dann schon wieder witzig. Hätte er doch nur Flaschen mit Wasser eingekauft, lautet der Vorwurf. Hat man Kerzen griffbereit? Hat man Mineralwasser zu Hause und am besten einen Sechserpack, aber wieweit kommt man mit einem Sechserpack? Das Bedrohungsszenario aus "Heimatfilm" übernimmt man schnell.
Aus der Wasserleitung kam schon einmal in einem unpackbar argen Film beim Crossing Europe kein Tropfen mehr: Die knapp vor unerträglich konsequente Radikalität von "To Agori Troi To Fagito Tou Pouliou / Boy Eating The Bird's Food" stellt sich in "Heimatfilm" jedoch nicht ein. Aber plötzlich eröffnen Menschen einander den Krieg und müssen Zweckgemeinschaften bilden, um sich an die Grenze durchzuschlagen. "Heimatfilm" drängt die EidgenossInnen in die Rolle Fliehender. Was für ein Bild, als sich Pkw auf einer Bergstraße stauen. Bloß hinaus aus der Schweiz!
Bilder aus afrikanischen Ländern dienten den FilmemacherInnen als Vorlagen für die Szenen an der Staatsgrenze, sagt Regisseur Jan Grossmann beim Gespräch im Kinosaal. Als der "Heimatfilm" fertiggestellt war, zeigten Fernsehnachrichten, wie sich Geflohene vor Staatsgrenzen binnen Europas drängten.
Kinoreisen
"Der Sand ist weiß, die See ist schwarz und spiegelt den Himmel", heißt es in einer ausnehmend poetischen Szene in "Heimatfilm". Friedlich schwapppt das Mittelmeer im diesjährigen Crossing-Europe-Trailer. Jola Wieczorek widmet sich bei ihrem ersten Dokulangfilm der Adria, ursprünglich gedacht als Sehnsuchtsort Urlaubsreisender.
Auf der Fassade des OK wechseln einander Mikro- und Makrokosmen ab, während am Deck Lime Crush spielen: Der Künstler und Filmemacher Lukas Marxt bekam dafür einen Preis am Eröffnungsabend.
Heute führt das Crossing Europe sein Publikum nach Deutschland zu den Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde, in Putins Russland und auf den Brenner. Um nur drei vieler möglicher Kinoreisen zu empfehlen.