Erstellt am: 20. 4. 2016 - 16:55 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 20-04-16.
#demokratiepolitik #securityismus
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.
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Diese aktuelle Studie zeigt es: drei Viertel aller Österreicher fürchten sich vor Kriminalität und Terror. Früher ist alles besser gewesen. Das kann man nicht einfach so wegwischen: die Verantwortlichen müssen die Sorgen der Menschen ernstnehmen.
Wobei, Momenterl: "Die Sorgen der Menschen ernstnehmen" bedeutet nicht, sie abzunicken und damit (womöglich auch bewusst ausbeuterisch, sowohl politisch als auch ökonomisch und medial) zu bestärken.
Es bedeutet eigentlich: sich damit beschäftigen, Phantasmen zu entlarven, Probleme zu beseitigen, also konstruktiv-analytisch zu berichten und politisch zu handeln. Leider ist das nur in der Theorie so, die österreichische Praxis bleibt rein affirmativ und somit wirkungslos. Auch und vor allem medial.
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Die Sorgen der Menschen muss man ernstnehmen. Abholen müsse man sie in den Bereichen ihrer Verunsicherung. Sagen die Spin-Doktoren, sagen die Experten, sagen also auch die Politiker.
Die Sorgen, die in den aktuellen Krisen greifen und politisch relevant werden, speisen sich im Wesentlichen aus den Pools "Sorge um persönliche Unversehrtheit, Sorge um Sicherheit, "Angst vor dem Unbekannten" und "Angst vor sozialen Abstiegs".
Weil sie zeitgleich auftreten, werden sie miteinander verknüpft; wiewohl es kaum direkte Zusammenhänge/Auswirkungen gibt. Pool 1 wird von einer globalen Industrie, einer Securityismus-Lobby befeuert, Pool 2 speist sich aus einem steinzeitlichen Reflex, den nur zivilisatorische Impulse aufheben können. Beide Komplexe fischen im virtuellen, im gefühligen, nur Pool 3 beinhaltet reale Probleme. Die wiederum nur durch eine gerechtere ökonomische Verteilung des Wohlstands erzielt werden können.
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Weil die Lösungs-Kompetenzen dafür aber - im Gegensatz zu früheren Zeiten - kaum oder nur höchst unzureichend in der Hand nationaler Politik (die von gewählten Repräsentanten bestritten wird) liegen, sondern Resultat globaler Entwicklungen (die mandatslose Companies betreiben) sind, macht sich ein Fatalismus breit, der a) weder Politik noch seinen Vermittlern (den Medien) mehr Vertrauen entgegenbringen mag und b) zum wilden Ausleben der Phantomschmerzen im Bereich Nationalismus/Xenophobie bzw Sicherheit führt.
Weil den Sorgen rund um den ökonomischen Abstieg der Mittelschicht, der Angst vorm Abgehängt-Werden und den Sorgen der bereits Abgehängten nichts entgegengesetzt werden kann, hat sich die politische Klasse auf den vielzitierten Stehsatz des Ernstnehmens geeinigt. Um sowohl beim realen Abstieg als auch bei den ansteigenden Ängsten tatenlos zusehen und sich trotzdem halbwegs wohlfühlen zu können.
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Politisch opportun wäre eigentlich das Gegenteil: Entkrampfung von virtuellen Ängsten und politische Aktion. Und sei es nur im engen Rahmen, der den Nationalstaaten heutzutage bleibt. Auch das würde sich bemerkbar machen. Wie man sieht wirkt sich schon eine kleine, immer noch die Reicheren befördernde Steuerreform aus. Und selbst in der sozialpartnerschaftlich eingezwängten österreichischen Realität ginge deutlich mehr.
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Einen tagesaktuellen Reality Check ermöglicht eine Sicherheits-Studie, die gestern quer durch alle medialen Kanäle getrieben wurde: neben der schon längst mehrheitsfähigen abstrakten Angst vor Terror und Kriminalität grassieren jetzt auch Alltagsängste, die das Leben im öffentlichen Raum betreffen. Soweit die vergleichsweise simplen (erwartbaren) Ergebnisse einer Umfrage.
Das Sample: Berichte im Wirtschaftsblatt, in der Kleinen Zeitung, im Volksblatt, in der Kronen-Zeitung und im Kurier.
Die in den Medien (mein subjektives Sample umfasst fünf zufällig ausgewählte Tageszeitungen und den Teletext) auch vollinhaltlich übernommen wurden. Ohne Gegenrecherche oder Hinterfragen. Schließlich unterwerfen sich auch und vor allem die Medien seit einiger zeit dem Diktum des "die Menschen ernstnehmen". Dafür kann man seinen eigentlichen Job schon einmal vernachlässigen.
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Auftraggeber der Umfrage ist die Allianz-Versicherung. Eine Versicherung lebt von Ängsten, egal ob gefühlten oder realen, sie basiert darauf ihr Geschäftsmodell. Je mehr Angst, desto versicherter. Eine von der Versicherungswirtschaft veröffentlichte Umfrage zum Thema Angst ist in etwa so glaubwürdig wie eine von Katzen in Auftrag gegebene Umfrage zum Thema Mauserln und Vogerln. Diese Unvereinbarkeit war in keinem der Medienberichte Thema. Immerhin wurde mancherort der Fakt dass die Umfrage "nach den Dezember-Anschlägen in Paris und vor jenen in Brüssel" geführt wurde. Sogar die Agentur wird zitiert, nämlich die österreichische Tochter von "Marketagent". Dass Marktagent ein Online-Research-unternehmen ist, dass es sich also um eine rein onlinebasierte Studie handelt ist auch kein Thema. Die Relevanz der Unterscheidung zwischen rein anonym ausgefüllten Klick-Bögen und einem face-to-face (oder ear-to-ear am Telefon) sollte nicht erst nach der aktuellen Profil-Coverstory von Ingrid Brodnig jedem Journalisten klar sein.
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Der "Früher war alles besser"-Verweis auf eine vor einem Jahrzehnt erschienen Vergleichsstudie wird behauptet, aber nicht belegt, was keines der Medien thematisiert.
Beigefügt ist der OTS, die die Basis für die Artikel bot, ein Statistik-Chart zum Thema "Kriminalstatistik 2015: Angezeigte Kriminaldelikte pro 1.000 Einwohner". Diese Statistik wird zu keiner anderen in Beziehung gesetzt, sondern dient dazu die These dass die Ängste in Großstädten (Wien führt klar) am höchsten ist. Immerhin ist eine Quelle (der Sicherheitsbericht 2015 angeführt.
Keines der Medien (vor allem die, die ihn einfach übernahmen) hat den Chart auf seine Relevanz überprüft. Dass der nämliche Sicherheitsbericht gleich auf Seite 10 einen Rückgang der angezeigten Fälle um fast 2% zeigt, ist ebenso wenig Thema wie etwa der Sicherheitsbericht 2014, der (auf Seite 16) die Zahlen der Anzeigen seit 2005 enthält und einen permanenten Rückgang von über 600.000 auf 2015 erstmals unter 520.000 Anzeigen ausweist.
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Da die in dieser Zeitphase immer stärker angeheizte Sicherheitshysterie einen automatischen Anstieg von angstgetriebenen Pimperl-Anzeigen nach sich zieht, ist der reale Rückgang der Anzeigen ein Zeichen für einen recht deutlichen Rückgang der Gesamtkriminalität, den sowohl die BMI-Berichte als auch die Statistiken des BKA bestätigen.
Angst vor zunehmender Kriminalität ist also, selbst bei wenig Vorwissen, mit ein wenig Recherche, als gefühltes Phantasma, als Phantomschmerz zu entlarven. Dass die Studie einer Company, deren Interesse am Hochhalten von Angst groß ist, eine recht bescheidene Studie mit so wenig Referenz-Material belegen kann, sollte eigentlich sofort zu einem kritischen journalistsichen Reflex führen und einen zumindest kleinen Re-Check nach sich ziehen.
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Das geht auch im Bereich Angst vor Terror. Die ist größer denn je - obwohl die Anzahl der Terror-Toten im 10-Jahres-Vergleich so klein ist wie schon seit 1970 nicht mehr.
Victims Of Terrorist Attacks In Western Europe weist die westeuropäischen (und gefühlt interessieren den ängstlichen Österreicher ja nur die) Terror-Toten seit 1970 aus, eine andere Statistik auf watson.ch die Toten der heutigen EU-Staaten, auch seit 1970. Anschließend ein Bericht mit dem Titel "Die vergessenen Jahre des Terrors" über die 70er und 80er, als Anschläge auf Flughäfen und Botschaften (als Auswirkungen des Palästina-Konflikts) an der Tagesordnung waren, aber auch rechtsextremer Terror (Bologna, Oktoberfest München), der nordirische Konflikt oder Gaddafis Lockerbie-Absturz Terrorgefahr als Normalität, mit der man zu leben hatte, wahrgenommen wurde.
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Profiteure damaliger Sicherheitszuspitzungen waren die Nationalstaaten, die ohnehin ein Überwachungs-Monopol hatten. Profiteure heute ist die seit 9-11 dramatisch gewachsenen private Sicherheits-Branche als Seitenarm des militärisch-industriellen Komplexes, der sich nicht mehr nur auf Profit durch Waffenexporte in kriegsführende Länder der 3. Welt verlassen wollte.
Und noch ein Faktum: Dem Terror zum Trotz geht die Mordrate weltweit massiv zurück: da ist A worldwide decline of murder and robbery und es wird kaum thematisiert. Weils nicht ins "Die Ängste der Menschen erstnahmen"-Bild passt.
Die blind und gebetsmühlenartig hervorgeholte Stammtischweisheit, dass wir in der unmenschlichsten und grausamsten aller Zeiten leben, lässt sich nicht nur durch die nackten Fakten der Geschichte der Menschheit widerlegen, sondern auch durch einen ganz aktuellen Reality Check. In praktisch jedem Bereich außer dem (logischen) Wachstumsmarkt Cybercrime ist die heutige Welt - kriminalitätstechnisch, gewaltmäßig - die beste, die es jemals gab.
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Nur ist das Menschen, denen ein Turbo-Kapitalismus die Grundlagen entzieht, sie zu working poor degradiert, als aufstiegschancenlos abhängt, während sich eine Erbschafts-Elite steuerfrei schreibt und die politische Klasse der Ohnmacht ergibt, nicht mehr klarzumachen, Irgendwohin müssen die, die ernstgenommen werden möchten, ihren Frust nämlich hineininvestieren. Und es wird ihnen von National-Populisten jeder Art auch verdammt leicht gemacht Schuldige zu finden.
Hier, im Unterholz politischer Instrumentalisierung ist die Lösung des Dilemmas nicht zu finden. Das obliegt den (noch) politisch Verantwortlichen und den Medien. Wenn die aber die Ernstnahme ihrer Wähler/Userschaft darauf beschränken, rein affirmativ zu wirken, potenzieren sie die Phantomschmerzen einer Gesellschaft. Bis hin zu deren Kollaps.