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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

18. 4. 2016 - 18:12

Unorthodox

Deborah Feldman erzählt von ihrem Ausbruch aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde im Williamsburg, Brooklyn.

Keine Bücher, keine Musik, kein Sport. So sieht das Leben von einem Teenagermädchen aus, das in der jüdisch-chassidischen Satmar-Gemeinde aufwächst. Deborah Feldman ist in dieser ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde aufgewachsen. Die Satmar-Gemeinde in Williamsburg, New York ist von Holocaust-Überlebenden aus Europa (wieder)gegründet worden, die glauben, die Assimilierung der europäischen Juden habe den Holocaust als göttliche Strafe über sie gebracht. Und die deshalb besonders fromm nach alten jüdischen Gesetzen leben.

Für Mädchen und Frauen sind die orthodoxen Vorschriften besonders rigide. Sie haben kaum Freiräume, vor allem nicht außerhalb des Hauses, und sie werden einzig und allein auf ein Leben als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Deborah Feldman ist aus diesem rigiden Leben ausgebrochen und hat ein Buch darüber geschrieben. Es heißt „Unorthodox“. Heute war sie zu Interviews und zu einer Lesung in Wien

Deborah Feldman

Radio FM4 / Irmi Wutscher

Wie ist das Leben für ein junges Mädchen in dieser Satmar-Gemeinde, wie sieht das aus?

Deborah Feldman: In dieser Gemeinschaft sind Geschlechter komplett getrennt, das heißt, die Mädchen gehen in eine religiöse Mädchenschule und die Jungen in eine Jungenschule. Die Jungen lernen Thora und Gebet und die Mädchen lernen, geschickte Hausfrauen zu werden. Sie lernen auch alle jüdischen Gesetze, die mit dem Haushalt zu tun haben. Sie müssen immer entweder in der Schule oder zu Hause sein, nicht viel draußen. Wenn ja, dürfen sie nicht laut lachen oder reden, auf keinen Fall singen oder Sport treiben. Kommt ihnen ein Mann entgegen, müssen sie zur Seite treten. Man fühlt einfach, dass man ein Mensch zweiter Klasse ist. Und man weiß, man hat nur eine Option als Frau: Man wächst auf, um eine Mutter und Hausfrau zu werden und viele Kinder zu gebären.

Und das Leben der Jungs spielt sich komplett anders ab? Es gibt aber eigentlich auch sehr viele Regeln für sie, oder?

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Sie sind fast genauso eingeschränkt. Aber trotzdem höhergestellt. Sie sind die "Prinzen" in dieser Gemeinschaft, alles wird für sie gemacht. Die Männer machen die wichtige Arbeit: sie lernen, studieren und beten und verdienen sich dabei etwas für das Leben nach dem Tod. Die Frauen sind zu Hause und organisieren, waschen, kochen und bügeln und verdienen einen kleinen Teil von diesem Leben nach dem Tod. Die Männer machen also was Wichtiges, die Frauen sind nebensächlich. Das spiegelt sich in allen Lebensbereichen wider. Die Männer sind schon auch eingeschränkt, aber wenn sie sich mit den Frauen vergleichen, sehen sie auch, dass sie mehr haben.

In der Biografie im Klappentext heißt es, deine Muttersprache ist jiddisch. Englisch hast du also erst als Zweitsprache gelernt?

In der Gemeinde bekommt man in der Schule ganz beschränkten Englisch-Unterricht. Mädchen, die mit der Schule fertig sind, können ungefähr so gut Englisch, wie ein durchschnittlicher US-Amerikaner in der dritten Klasse. Ich habe als Kind heimlich Bücher auf Englisch gelesen, dadurch hat sich mein englisch sehr verbessert. Ich hatte aber einen sehr starken Akzent, als ich auf die Uni kam, den musste ich noch wegbekommen.
Jetzt lebe ich ja in Deutschland, in Berlin, und versuche mein Jiddisch auf Deutsch zu übertragen. Eigentlich ist das sehr seltsam, weil ich in meinem Gehirn nur einen Platz für die beiden Sprachen habe. Das Deutsch ersetzt das Jiddisch, das ist ein bisschen erschreckend: Man verliert die Muttersprache, irgendwie. Momentan kämpfe ich noch mit der deutschen Grammatik, die finde ich sehr herausfordernd.

Bücher waren für dich sehr wichtig, um auszubrechen, um neue Welten kennen zu lernen …

Bücher haben mir eine Perspektive gegeben, die mir fehlte. Als ich Kinderbücher gelesen habe, habe ich gemerkt, dass es in allen Kinderbüchern den Protagonisten/die Protagonistin gibt, der/die arm, missverstanden ist, gemobbt wird. Und dann kommt jemand und rettet dieses Kind und alles wird gut, nicht wahr? Ich dachte: Ah, genauso passiert es mit mir – ich bin auch unverstanden, verachtet und ignoriert. Irgendwann kommt jemand und wird mich auch retten! Später wenn man älter wird, lernt man dann, dass das eine Metapher ist, dass dieser Held in einem selbst ist. Ich habe das verstanden, aber nicht genug an mich geglaubt, dass ich dieser Held sein kann. Aber als mein Sohn geboren wurde, ist mir eingefallen: ich kann für ihn Heldin sein.

Wo war für dich der Punkt, wo du gesagt hast: Ich muss hier raus. Es ist klar: Ich gehe weg!

Wie gesagt, als ich zum ersten Mal ins Gesicht meines Sohnes geschaut habe. Da ist mir plötzlich klar geworden: ich muss gehen, weil er soll ein besseres Leben haben, als ich gehabt habe. Dann musste ich einfach viele praktische Sachen erledigen: Ich musste einen Schulabschluss machen, die Universität besuchen, einen Job finden, ein Konto eröffnen, eine Wohnung finden. Das waren alles sehr handfeste Dinge und ich habe sie Schritt für Schritt erledigt. Nach drei Jahre hatte ich das gemacht und hatte Angst, den letzten Schritt zu machen. Dann hatte ich einen Autounfall, mein Auto hat sich dreimal überschlagen. Ich dachte währenddessen, dass Gott mich jetzt straft, dass ich jetzt sterbe und dass das auch gerecht ist. Und dann habe ich ohne einen Kratzer überlebt. Ich bin aus dem Auto rausgekrochen und habe mir gedacht: Deborah, eigentlich hast du deine eigenen Kraft nie verstanden. Du hast jetzt was ganz Schlimmes überlebt, das heißt du kannst noch viel mehr überleben. Geh einfach, und du schaffst es!

Cover unorthodox

Secession Verlag

Das Buch „Unorthodox“ von Deborah Feldman ist im Secession Verlag erschienen, aus dem Englischen übersetzt von Christian Ruzicska.

Du schreibst, du warst vorher in der Gemeinde schon ein bisschen Außenseiterin, weil deine Mutter auch weggegangen ist, dein Vater nicht wirklich da war. War es da leichter für dich zu gehen?

Es ist auf alle Fälle wahr, dass man so etwas nur überlegt, wenn man schon am Rand ist. Das ist eine sehr konformistische Gemeinschaft, und man muss genau so sein, wie vorgeschrieben. Wenn man in diesen engen Raum nicht reinpasst, ist man schon am Rand. Am Rand ist es einsam und elend und man hat nicht so viel zu verlieren. Es ist nicht so, dass ich meine Gemeinschaft abgelehnt habe, die haben mich abgelehnt! Das hat dazu geführt, dass ich dann diesen letzten kleinen Faden zerrissen habe.

Und du hast die Gemeinde komplett hinter dir gelassen. Also seitdem niemanden mehr gesehen, gehört…

Ich habe absolut keinen Kontakt mehr. Das ist auch besser so. Ich kenne andere, die die Gemeinschaft verlassen haben aber noch ein bisschen Kontakt haben. Die wurden aber sehr verletzt, schikaniert... Viele haben sich umgebracht. Es ist schon schwer genug in die neue Welt hinein zu kommen, sich da ein Leben aufzubauen. Wenn man dann noch Kontakt hat, dann ziehen sie dich immer wieder zurück und so schaffst den Weg hinüber nicht, man bleibt immer dazwischen.

Denkst du manchmal nach, was deine Freundinnen von der Schule z.b. wohl so machen?

Ich denke nicht oft daran, ich bin mit anderen Sachen beschäftigt. Manchmal bekomme ich Mails von Leuten, die auch ausgestiegen sind, die mich früher gekannt haben. Eine war z.b. eine Schülerin von mir, für die ich ein Vorbild war. Das ist schön.

Du schreibst über deine arrangierte Ehe, sogar relativ deutlich über das Sexleben in dieser Ehe. Warum hast du dich entschlossen, das zu veröffentlichen?

Es war so, dass in dieser Gemeinschaft meine Privatsphäre verletzt wurde. Mein Körper war nicht mein Eigentum, sondern das Eigentum der Gemeinschaft. Ich habe mit sehr viel Scham und Schuld gelebt. Indem ich meine Geschichte schreibe, nehme ich meinen Körper wieder in Besitz und kann auch die Scham überwinden. Was passiert ist war absolut menschlich, aber die Gemeinde hat mir eingeredet, dass das Problem bei mir lag, weil ich nicht mit 17 sofort mit einem fremden Mann schlafen wollte. Wenn ich das weiter verstecken würde, würde ich mich weiter unangenehm fühlen. Jetzt ist es aufgeschrieben; so war‘s, so habe ich es wahrgenommen.

Glaubst du, dass es für Frauen in so traditionellen, recht patriarchalen Gemeinschaften mehr Gründe gibt auszubrechen als für Männer?

Auch Männer verlassen die Gemeinschaft, aber wegen anderer Gründe. Viele sagen, sie sind Atheisten, sie haben eine Glaubenskrise. Oder sie wollen einfach Filme ansehen und mit mehr Frauen schlafen. Die Frauen, die ich kenne, die ihre Gemeinschaft verlassen haben, da geht es oft um die Kinder, weil man ihnen ein besseres Leben geben möchte. Oder dass sie körperliche Freiheit haben können, das ist für viele Frauen, die meine Gemeinschaft verlassen haben, sehr wichtig. Männer haben dort schon ein gewisses Maß an Privatsphäre. Männer gehen also aus anderen Gründen, und die sind auch wichtig. Aber ihre Erfahrung ist eine ganz andere.

Für mich liest sich das Buch wie ein feministisches Buch: den eigenen Körper zurückerobern, das Leben selbst bestimmen. Bezeichnest du dich als Feministin?

Es ist auf jeden Fall ein feministisches Buch, und ich bin auf alle Fälle Feministin. Es ist so schade, dass es so eine kontroversielle Sache ist, das heute zu sagen, dass Leute sich so bedroht fühlen, wenn sie so was hören. Für mich bedeutet das: ich kämpfe für meine eigenen Freiheit, für mein eigenes Glück, ich störe niemanden dabei.

Mittlerweile lebst du in Berlin. Warum? Wolltest du New York hinter dir lassen, weil da zu viel an deine Vergangenheit erinnert hat?

Ich habe lange in New York gelebt, es war nicht super angenehm, die Vergangenheit so im Hinterhof zu haben, aber ich habe es geschafft. Ich war dann auf Spurensuche in Europa, denn ich wollte verstehen, was für ein Leben meine Großmutter vor dem Krieg geführt hat. Ich habe Berlin öfter besucht und hatte immer das Gefühl, dass Berlin ein besonderer Ort ist. Dass dort Leute, die keine Wurzeln haben, gut hineinpassen, sich zu Hause fühlen. Als ich dann einmal ins Flugzeug zurück nach Amerika eingestiegen bin, hatte ich das Gefühl, das ist falsch, ich fühle mich doch hier mehr zu Hause als zu Hause. Dann habe ich meinen Sachen gepackt und langsam geplant um zu ziehen. Seit ich in Berlin lebe, fühle ich mich zum ersten Mal im Leben zu Hause. Das ist ein seltsames Gefühl, denn ich dachte, ich würde das nie wieder spüren. Dass ich dazu verurteilt bin, das nie wieder zu spüren. Und jetzt habe ich es gefunden.

In einem Interview sagst du, du hast das Gefühl, du hast noch so viel nachzuholen. Berlin ist ja auch eine Partystadt, findet man dich jetzt im Berghain?

Nein, ich meinte damit eher Bücher lesen. In den Clubs war ich nie, ich bin jeden Tag um acht im Bett! Nachholen bedeutet auch Fahrrad fahren, im Wald zu wandern, Freundschaften aufzubauen ohne Angst zu haben, bestraft zu werden für Dinge, die ich gesagt habe,... Nachholen ist das Leben auszukosten!

Was möchtest du noch tun?

Einen Roman schreiben! Ich habe jetzt zwei Bücher aus der Kategorie „creative nonfiction“ geschrieben. Also eher Sachbücher. Jetzt möchte ich meinen Vorbildern nacheifern und einen richtigen Roman schreiben.