Erstellt am: 28. 4. 2016 - 15:26 Uhr
Saufen in der Seestadt
Eigentlich wollte ich diesen Aufsatz ja dem VICE verkaufen, dann hätte ich aber bestimmt den Titel ändern müssen.
Dieser Typ wollte sich in der Seestadt betrinken und hat am Ende seine Niere versteigert!
gefiel mir dann aber doch nicht so gut wie "Saufen in der Seestadt", denn so heißt nun einmal das Projekt, das ich mit Trinkkollegin Elisabeth schon lange geplant hatte und vor einigen Tagen endlich in die Tat umsetzen durfte. Außerdem wird wohl kaum jemand meine Niere ersteigern, wenn ich sie durch vorsätzliche Alkoholzufuhr derartig wertmindere.
Der Projekttitel mag die Kernfrage unserer Feldforschung schon hinreichend andeuten, etwas wortreicher dargelegt lautet sie:
Ist es eigentlich möglich, sich in der ominösen Seestadt Aspern an einem Samstagabend schön einen reinzustellen, sich nach Strich und Faden volllaufen zu lassen, gepflegt einen zu bechern, oder etwas deutlicher ausgedrückt:
Kann man sich in der Seestadt ordentlich weghacken, die Kante geben bzw. die Birne wegschießen?
Noch mehr als dieses Experiment hätte es mich eigentlich gereizt, das Prinzip der Bielefeld-Verschwörung wiederzubeleben und die Behauptung in die Welt zu setzen, die Seestadt Aspern existiere in Wahrheit gar nicht. Wahrscheinlich wären schnell Indizien gesammelt und Anhänger der Verschwörungstherorie gefunden, denn die Leute glauben ja eh am liebsten den größten Schmarrn, ohne ihn zu überprüfen, und wer will schon die Existenz einer Satellitenstadt überprüfen, wenn die Fahrzeit gleich lang wie jene nach St. Pölten ist? Es fährt ja auch niemand ohne guten Grund nach St. Pölten.
Doch die Seestadt existiert, das musste ich bereits vor zwei Jahren einsehen, als ich an einem Abend gleich zehn Freundschaften auf eine harte Probe stellte. Gleich zehn Freunde konnte ich damals nämlich überreden, mich zur Aktion "Kranensee" zu begleiten.
Ein Ballett von Baukränen in der damals noch aus Rohbauten bestehenden Seestadt war angekündigt worden, was für mich hinreichend beknackt klang, um das unbedingt sehen zu müssen und zahlreiche Begleiter mitzunehmen.
Flickr.com, User prilfish
Kalt und windig war es, als sich zwölftausend (in Worten: zwölftausend) Schaulustige in Aspern versammelten. Die Schaulust wurde schnell zum Schaufrust. Fast eine Stunde lang ging ein Moderator seinem Gewerbe nach, doch man verstand kein Wort. Dann erklang endlich elektronische Musik und die mit überdimensionalen Ikea-Lichterketten illuminierten Kräne setzten sich in Bewegung und machten einfach irgendwas. Entweder hatten die Kranführer die Chroreo vergessen oder es gab keine.
Dann gingen zwölftausend Menschen zurück zur U-Bahn-Station und kugelten dabei teilweise über die matschigen, unbefestigten Hänge. Kullernde Omis, schlitternde Familien, apokalyptische Szenen.
Die Begleiter waren sich schnell einig: Das Kranenballett sei (ich zitiere aus dem Gedächtnis) "wirklich ein riesen Scheiß" gewesen. Alle Versuche meinerseits, die misslungene Exkursion schönzureden, scheiterten zurecht und ich musste noch so manches Bier ausgeben, um die Wogen zu glätten.
Nun also der zweite Versuch, die Seestadt Aspern ins Herz zu schließen.
Start des Trink-Projekts war 18 Uhr am Praterstern. Wir stellten uns auf eine lange U-Bahn-Fahrt ein und malten uns währenddessen aus, was uns in der unheimlichen XXL-Siedlung am Stadtrand erwarten könnte.
Würden uns rings um den Teich jamaikanisch tanzende Seestädterinnen empfangen, um uns mit Zauberhand in einen Kokon der Nachhaltigkeit einzuweben? Würde uns ein penibelst durchgendertes E-Bike-Geschwader zu den verheißungsvollsten Ecken des Feelgood-Satellitendorfs geleiten? Oder würden Tumbleweeds durch eine gruselig leere U-Bahn-Station rollen und uns bei der Entscheidung "Ausgang Seepromenade - ja oder nein?" kein bisschen weiterhelfen?
Letzteres war der Fall, was zu einem Exklusiv-Tipp für Seestadt-Greenhorns überleitet:
Nicht die Seepromenade nehmen!
Seepromenade = Umweg!
Seepromenade ≠ schön!
Verjährte Fackeln und Aludosen säumen das steinige Ufer und laden, um es im Reiseprospekt-Jargon auszudrücken, nicht zum Verweilen ein!
mc
Immerhin wurden wir von einem Regenbogen empfangen. Man sieht ihn mit gutem Willen sogar auf obigem Bild.
Verzaubert schritten Frau Elisabeth und ich weiter. Ab jetzt wird diese Erzählung etwas gerafft, denn allzu viel haben wir ehrlich gesagt nicht erlebt. Für einen VICE-Artikel hätten wir auf einem Sonnenkollektor koksen und in einer Stromtankstelle vögeln müssen, doch unser Projekt hieß nun einmal "Saufen in der Seestadt". Um das Experiment erfolgreich durchzuführen, mussten wir uns nach einem ausgesprochen ereignislosen Spaziergang durch verlassene Gassen für eines der beiden Lokale entscheiden, die das Monopol der Seestädter-Bewirtung innehaben. Wir entschieden uns gegen "den Italiener" und für "den Österreicher", der sich leider nicht FMVIER, aber immerhin ÖEINS nennt.
mc
Sogleich taten wir uns an diversen alkoholischen Getränken gütig. Trinkpartnerin Elisabeth merkte zurecht an, dass die Stimmung am Tisch jener am ersten Tag eines Pärchenurlaubs nicht unähnlich war.
Tatsächlich ereilte uns eine Art Urlaubsfeeling. Das lag nicht nur am dezent fischelnden See und dem milden Wetter, sondern an der Seestadt an sich. Die spärlich frequentierten, seltsam sauberen Straßen zwischen einander bedrohlich ähnelnden Betonbauten generierten eine Stimmung zwischen Truman Show und Mittelmeer-Resort in der Nebensaison.
Die wahre Urlaubsstimmung kommt schließlich nicht ohne ein deftiges Quantum Trostlosigkeit aus. Urlaub bedeutet zumeist: Unerfüllte Sehnsucht, herbe Ernüchterung, aufpeitschende Ereignislosigkeit, Resignation zum Pauschaltarif, heimliches Stundenzählen, zu Hause wieder schätzen lernen.
Strand in Gehweite? Meerblick vom Balkon? Zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten?
Touristennepp, Abzocke, Katze im Sack!
Algenplage, Fischvergiftung, Sonnenbrand, Wetterumschwung, Pärchenstreit!
Familienressort? Nervenkrieg!
Zu zweit ausspannen? Beziehungsende!
Selbstfindung? Selbstmordgedanken!
Gruppenreise? Selbstmord!
Betrug an der Sehnsucht, Lockbotenstoff Katalogfotografie, die Last Minute hat geschlagen.
Styroporwände, 142 Kanäle, Plastikball im Plastiknetz.
Souvenirs, Souvenirs, einer großen Zeit,
sind die bunten Träume unsrer Einsamkeit.
(Bill Ramsey)
mc
Tschuldigung!
Soeben gingen meine gelben Finger ein bisschen mit der Tastatur durch. Man dürfte zumindest erahnen, welche Art von Urlaub ich skizzieren wollte. Jene zu spät gebuchte Kompromiss-Reise, an deren Beginn man schweigend zu zweit in einem schwach frequentierten Restaurant landestypische Spezialitäten kaut, während beide denken, was sie niemals aussprechen würden:
"Ist das entsetzlich hier! Und das eine ganze Woche!"
Genau dieses Gefühl ereilte uns am Hannah-Arendt-Platz. Umso tröstlicher dagegen war, dass wir keine ganze Woche bleiben mussten und streng genommen immer noch in Wien waren, was man sich in der Seestadt aber immer wieder in Erinnerung rufen muss.
Nach "dem einen oder anderen" Bier und der Inanspruchnahme der Cocktail-Happy-Hour mussten wir schließlich ins Lokalinnere wechseln, wo überraschenderweise geraucht wurde.
mc
Vorbei waren die Stunden im Drei-Sterne-Ressort auf Teneriffa, jäh fanden wir uns in der Provinz wieder.
Wer sich am Land durch die Adoleszenz quälen musste, kennt es: Das eine Lokal. Dieses verfluchte eine Lokal, das halt etwas länger offen hat als der Postwirt. Oft ein Worst of aus Café, Pizzeria und Disco, architektonisch, farblich, musikalisch und gastronomisch auf ganzer Linie 1998 - gelbe Wände, Alu-Barhocker, Vodka Bull, Tortenvitrine, Radiomusik. Trinken, schmusen, tanzen, schlägern, schweigen. Alle sind da. Gibt ja sonst nix.
Diese Reise in die Jugend wurde Frau Elisabeth und mir also auch noch zuteil, bevor uns der Chef des Hauses zum Abschied Schnaps einschenkte, weil er sich ob der wahrscheinlich ersten Gäste, die einfach so zum Saufen in die Seestadt gekommen waren, recht freute.
Als wir gegen zwei schließlich durch die gespenstisch stille Seestadt zur U-Bahn wankten, waren wir uns einig, unser Vorhaben erfolgreich umgesetzt zu haben.
Resümierend sei festgehalten, dass "Saufen in der Seestadt" durchaus empfehlenswert ist, wenn man ein kleines Trinkabenteuer begehrt, das zwar ganz nett (im Sinne von "mal was anderes"), aber gleichzeitig so derartig arm an Überraschungen und erzählenswerten Ereignissen ist, dass es nicht unbedingt naheliegt, einen Text darüber zu schreiben.