Erstellt am: 17. 4. 2016 - 09:45 Uhr
Du schlägst mich tot, aber du kommst mir nicht nahe
Erzählt wird die Geschichte einer jungen, kurdischen Frau: Filiz ist zu Beginn der Erzählung noch ein Kind. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kurdischen Dorf in der Türkei, die Familie besitzt dort etwas Land, Vieh.
Früh lernt Filiz, dass die Ehre die gleichzeitig helle und dunkle Wolke ist, die über all ihren Köpfen schwebt: Sie gibt die Grenzen vor, fordert Glück und Hoffnung zurück, bringt allerdings auch Sicherheit.
Stefan Klüter
Andere Körperverzierungen
In unserem Tal leben hundert blaue Frauen. Es gibt hellblaue Frauen wie Neclas Mutter und dunkelblaue Frauen wie die Mutter von Fidan, es gibt blau-rote Frauen und blau-schwarze. Es gibt Frauen, die ihr Blau um den Hals tragen wie ein Medaillon, manche tragen ihr Blau als Armband um das Handgelenk, manche um ihre Fesseln.
Der Titel "Blauschmuck" erklärt sich schnell von selbst: Beinahe alle Frauen des Dorfes - sofern im richtigen Alter - tragen ihn. Um die Beine, um die Arme. Um die Füße, am Hals. Wie Ohrringe, Ketten und Armbänder. Stolz hat man als Frau darauf zu sein, egal, in welcher Farbe er erstrahlt.
Es gibt Frauen, deren Blauschmuck niemand kennt, Frauen, die ihn verbergen unter langen Kleidern, unter Tüchern, blaue Mädchen meist, wie Elif und Selin, die ihr Blau noch unsicher tragen wie einen ersten Lippenstift.
Himmelblau, tiefschwarz
Am Sonntag, den 29. 5., um 11.00 Uhr liest Katharina Winkler im Theater in der Josefstadt aus ihrem Debutroman.
Zwischendurch blitzen Momente von Hoffnung, von Freude auf für die Mädchen und Frauen. Die aber beinahe in derselben Sekunde bestraft werden: So muss Filiz’ Schwester sich stunden- wenn nicht tagelang in einem Baum verstecken, nachdem ein Wolf des Vaters Schafe angefallen hat, weil sie nicht aufmerksam genug war. Baden im Fluss, rodeln mitten in der Nacht. Zumindest einen Blauton dünkler sind die Frauen nach solchen geheimen Aktionen.
Der Blauschmuck der Frauen trägt die Handschrift der Männer. Das Werkzeug, Holz oder Eisen, und die Anzahl der Schläge bestimmen den Blauton.
Die Flucht, die keine ist
Filiz sagt sich im zarten Teenageralter jedoch los von ihrer Familie, vor allem von ihrem brutalen Vater: Ohne seine Erlaubnis flieht sie mit Yunus zu dessen Familie. Er, in den sie sich vermeintlich unsterblich verliebt, erklärt ihr eines Tages nämlich: "Du gehörst mir". Dass er das nicht romantisch gemeint hat, soll sich schnell herausstellen.
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Schnell ist Filiz wieder in jenem - oder in einem noch schlimmeren - Fegefeuer gefangen, als es ihr Leben im Elternhaus war. Yunus wird sie nicht nur regelmäßig verprügeln, sondern vergewaltigen, demütigen, schließlich ignorieren. Zwei Kinder gebiert sie in dieser Ehe, weil verzweifelte Versuche, die Ungeborenen selbst abzutreiben, scheitern.
Ich liege auf dem Küchenboden und bin aus meinem Körper geprügelt. Yunus ist in Schweiß gebadet, das Holz in der Hand, im Rhythmus der Schläge gefangen, er sieht mich nicht mehr.
Suhrkamp
Katharina Winklers Debütroman ist im Suhrkamp Verlag erschienen.
Yunus bekommt einen Job in Österreich, die junge Familie zieht dorthin um. Man erhofft sich ein gutes Leben, schwärmt von Blue Jeans, schnellen Autos. Yunus verdient gut, unterhält Affären, schließt Filiz und die Kinder zuhause ein, während er sich unterhalten lässt. Geschlagen, vergewaltigt wird weiterhin. Filiz einzige Angst? Dass sie ihm zu alt, zu hässlich, zu abgenutzt wird. Yunus ist das Wetter: Mit ihm geht die Sonne auf. Oder eben nicht.
Es ist nicht leicht, dieses Buch zu lesen. Man lebt beinahe körperlich mit der Protagonistin mit, spürt ihren Schmerz. Nicht übertrieben pathetisch, aber in starker, metaphernreicher Sprache erzählt Katharina Winkler die Geschichte von Filiz - die umso unglaublicher und tragischer erscheint, wenn man weiß, dass sie auf wahren Begebenheiten beruht. Schon vor zehn Jahren traf Katharina Winkler eine junge Kurdin, die ihr davon erzählte. Und der sie mit dem nun vorliegenden Roman Wertschätzung entgegen bringen wollte. Wertschätzung und vor allem: Bewusstsein.
Schließlich, und beinahe unglaublich, gelingt es Filiz, sich von Yunus loszusagen. Nachdem er sie fast totgeprügelt hat. Sie erträgt und überlebt Unerträgliches und geht beinahe ungebrochen daraus hervor. Das ist es auch, was diesen Roman so beeindruckend macht: Die Unbesiegbarkeit seiner Protagonistin.
Du schlägst mich tot, aber du kommst mir nicht nahe.