Erstellt am: 11. 4. 2016 - 15:12 Uhr
Frankreichs politischer Frühling
von Christophe Kohl
Mein Weg in die Arbeit führt mich täglich über den symbolträchtigen "Place de la Republique". War der Platz bis vor kurzem noch geprägt vom Gedenken an die Opfer des Terrors, so erwacht er nun seit mittlerweile zwölf Tagen jeden Abend zu neuem Leben.
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Christophe Kohl
Hier hat nach einer Großdemonstration gegen die geplante Arbeitsmarktreform der französischen Regierung die erste "Nuit Debout" stattgefunden. Hier versammeln sich seither jeden Abend tausende Menschen und tun vor allem eines: sie diskutieren. Sie diskutieren in der Generalversammlung, bei der sich jeder zwei Minuten lang zu Wort melden darf, in Gremien, in sich spontan zusammenfindenden Kleingruppen. Was die protestierenden Schüler, Studenten und auch zahlreichen Pensionisten hier eint, ist der Frust über die politische Elite, vor allem den sozialistischen Präsidenten Francois Hollande, den viele hier vor vier Jahren noch selbst gewählt haben.
Thibault, Student an der Eliteuni ENS, verbringt jeden Abend auf der "Nuit Debout": "Wir haben aufgehört, zu sagen, was wir nicht wollen, sondern was wir wollen. Klar ist es ein wenig chaotisch. Es gibt keine wirkliche Führungsstruktur. Aber es ist ein Ort des kollektiven Diskurses, der uns ermöglicht, Ideen zu entwickeln und unseren politischen Vorstellungen so etwas mehr Kraft und Aufmerksamkeit zu verleihen."
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Christophe Kohl
Die Atmosphäre erinnert ein wenig an jene eines politischen Festivals. Viele Passanten und Anrainer bleiben stehen, lauschen den Debatten oder beginnen selbst mitzudiskutieren. Andere drücken ihren Protest musikalisch oder künstlerisch in Form von Zeichnungen, Performances oder Gedichten aus.
Es ist beeindruckend, was hier jeden Abend entsteht. Volksküchen werden aufgebaut, es gibt ein Erste-Hilfe-Zelt inklusive Rechtsberatung. In einem Zelt produzieren AktivistInnen ihre eigene TV-Show, nebenan wird im improvisierten Webradiosender der "Nuit Debout" diskutiert. Die Biochemiestudentin Arielle engagiert sich im Informationszelt: "Viele, die zum ersten Mal hierherkommen, sind etwas überfordert und wissen nicht, wie es funktioniert. Wir sagen ihnen, wo Hilfe gebraucht wird, wo sie die Gremien zu jenen Themen finden, die sie interessieren."
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Christophe Kohl
So geht es die ganze Nacht lang. Bis die Polizei im Morgengrauen - wie jeden Tag - den Platz räumen lässt. Es wird alles abgerissen und entsorgt, was am Vorabend aufgebaut wurde. Aber eines ist sicher: Wenn ich heute Abend von der Arbeit nach Hause gehe, werden wieder tausende Menschen hier sein und bei der 12. "Nuit Debout" über die Zukunft der französischen Gesellschaft debattieren. Unter genauer Beobachtung der französischen Politik, die nicht so recht weiß, wie sie mit dieser Bewegung umgehen soll.

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