Erstellt am: 14. 4. 2016 - 13:00 Uhr
Das Reich des Schneckenkönigs
Zarte Klavierklänge aus dem Nirgendwo mischen sich mit reduziertem digitalen Percussions. Unser Schneckenkönig blickt mit Trauer vom Zimmer des "Hotel zum Paradis", in dem nicht die Hölle los ist, über die Trümmer seines Reiches. Als er sich fragt, wie alles weitergehen soll, wechselt plötzlich das Tempo des Eröffnungsstücks und macht die melancholische, titelgebende Ballade zum unruhig treibenden Popsong.
Dieser thematische Tiefpunkt ist gleichzeitig der Startpunkt für das dritte Werk der Wiener Fusion-Band Neuschnee. Was Sänger, Komponist und Multiinstrumentalist Hans Wagner aus seiner Not heraus geschrieben hat, ist nichts weniger als ein geniales, vielfältiges und opulentes Konzeptalbum, das viele unerwartete Wendungen zu bieten hat.
© Jan Frankl
Zwischen Charts und Großstadtgewitter
Hans bleibt kryptisch, wenn es darum geht aufzudecken, was denn seine große Krise ausgelöst hat, die ihn nach Grado fliehen hat lassen, um dort seine Erfahrungen durch Musik zu verarbeiten. Andererseits ist alles da, in und zwischen den Zeilen von "Schneckenkönig". Da wäre zum Beispiel der epische Prolog, in dem die Sinnsuche startet und das Zweigespräch mit dem inneren König beginnt. Gleich darauf holt Hans Wagner aus, um der gelackten, sich ständig reproduzierenden und aufgeblasenen Popindustrie mit "Des Kaisers neue Kleider" eins vor den Latz zu knallen. Über das unglaublich rockig-funkige Gitarrenriff, den schleppenden Beat und die clever eingesetzten Streicher wird der Schneckenkönig zum Rockstar, der mit heißer Luft auf hohem Niveau seinen Song an die Börse schickt.
Dahinter steckt Hans Wagners Auseinandersetzung mit der Furcht, dass Pop einen durch seine Mechanismen so weit von der künstlerischen Aussage wegbringen kann, dass man auf der Bühne steht und eigentlich keinen emotionalen Bezug mehr zu den Songs hat, die man da singt. Aus dem perfekten Radiohit inklusive Geigensolo lässt sich auch so etwas wie eine Sinnkrise des Musikschaffens herauslesen, die in den fünf Jahren seit der letzten Veröffentlichung einmal aufgetaucht sein könnte.
Doch schon mit dem "Großstadtgewitter" hat der Schneckenkönig musikalisch wieder Boden unter den Füßen. Denn mit Mut und dem Drang, etwas Neues auszuprobieren, mischen Neuschnee hier ihren klassischen Kammermusikaspekt nicht mit Indie-Rock, sondern mit einer dubbigen, düsteren Elektronik. So einen grabenden Synthie-Bass und trippigen Schlagzeugbeat gab es bisher noch nie zu hören. Der von mehrstimmigem Chorgesang getragene Refrain lässt dann doch noch die Sonne zwischen den schweren, dicken Wolken hindurchblinzeln.
Das Innerste nach außen kehren
Nur mit Streichern und Klavier kommt die Ballade "Nimm mich mit, wenn du gehst" aus, die eine eigenartige Stimmung erzeugt, eine Art Zwischenwelt. Denn zum ersten Mal kommt hier der Schneckenkönig zur Ruhe und mit filmmusikalischer Harmoniebreite kündigt sich ein klarer Himmel an, nachdem sich die Gewitterwolken verzogen haben. Selbst wenn Hans Wagner in Folge wie ein "Blatt im Wind" von seinen Gefühlen hin und her taumelt, er geht beständig weiter auf seinem neuen Weg.
Auch als "Seemann ohne Schiff" rappelt er sich zum melancholisch schleppendem Takt immer wieder auf, um sich wieder selbst wieder neu zusammenzubauen. Das darauffolgende "La Folia" ist ein kammermusikalischer Befreiungsschlag von alten, mitgegebenen Glaubenssätzen und angelernten Denk- und Verhaltensmustern, das trotz melancholischem Klang die unweigerliche Veränderung ankündigt.
"Seid gewiss die Musik fließt durch uns durch
Sei es die von gestern oder heute
Nur wenn die Tradition nicht erlaubt den eigenen Ton
Sind wir morgen noch dieselben Leute"
(Neuschnee - "La Folia")
Neuschnee/Problembär Records
Das zweiteilige Abschlussstück "Planeten" versöhnt Hans Wagner mit der Vergangenheit und ist das zu Tränen rührende Ergebnis seiner Katharsis. Das Konzept dieser Reise spiegelt sich auch im Albumtitel perfekt wider. "Schneckenkönig" bezeichnet eine Schnecke, deren Haus in die unübliche, also verkehrte Richtung gewunden ist. Aber auch die Organe sind aufgrund dieses genetischen Fehlers genau spiegelverkehrt. Beim Menschen nennt sich dieses Phönomen Situs inversus, das auch bei Hans Wagner zutrifft. So hat er mit diesem Werk im wahrsten Sinne des Wortes sein Innerstes nach außen gekehrt.
"Schneckenkönig" ist nicht nur ein sehr privates, sondern auch sehr mutiges Album, das uns auf unaufdringliche Weise vor Augen führt, wie man seine Krisen und Dämonen überwinden kann und uns ein Stück Hoffnung mit auf den Weg gibt. Schließlich leben wir alle auf dem selben Planeten, teilen das gleiche Universum und vielleicht sind wir ja wirklich miteinander verbunden. Zumindest in den Augenblicken, wenn wir der Musik von Neuschnee lauschen.
"Zeit und Raum sind relativ
Wie auch die Geister die ich rief
Am Ende explodieren wir doch und kollabieren zum Schwarzen Loch
Schlucken das Licht und auch die Zeit, trifft Null auf die Unendlichkeit
Ob als Stern oder Atom, die Frage nach der Dimension
Zum Denken nah, zum Greifen weit, genau wie
Theorie und Wirklichkeit"
(Neuschnee - "Planeten")