Erstellt am: 6. 4. 2016 - 14:08 Uhr
Völkerball
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.
"Die Leiden des jungen Todor"
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Ich habe die Schule ein Jahr früher als meine Mitschüler begonnen und war sichtlich kleiner und schwächer als die anderen Jungs in meiner Klasse. Unser Sportlehrer mochte keine Schwächlinge wie mich. Er wollte, dass wir alle stark und athletisch wie Olympiasportler sind. Deshalb ließ er uns im Winter in Shorts durch den Schnee laufen. Die kalte Luft, sagte er, sei gut für unsere Lungen und Körper.
Währenddessen saß er mit dicker Jacke auf einem Stuhl und trank Lindentee. Mein Sportlehrer war ein Anhänger der natürlichen Selektion. Weshalb er immer, wenn er die Völkerballteams auswählte, die Starken und die Schnellen in ein Team schickte und die Schwächeren, wie mich, ins andere. Danach schaute er sadistisch zu, wie wir zum Freiwild unserer stärkeren Mitschüler werden. "Wirf stärker, damit diese Schwächlinge lernen, was Völkerball ist und dass man üben muss um stärker zu werden!", schrie unser Sportlehrer.
Radio FM4
Seine Anfeuerungen zeigten Wirkung. Der stärkste meiner Mitschüler, Vlado, warf den harten Ball so stark er konnte - direkt ins Gesicht der "Schwächlinge". Aus unsere Nasen floss Blut und der Sportlehrer bestrafte alle, die sich beschwerten, dass sie im Gesicht getroffen wurden. Deshalb hassten wir - "die Schwächlinge" - dieses verdammte Völkerball. Wir hassten auch den Sportlehrer und seine Teamauswahl. Wir wollten alle lieber in Shorts durch den Schnee laufen, da war uns wenigstens allen gleich kalt.
Gestern war das Wetter warm. Die Jungs, die Völkerball spielten, waren so konzentriert, dass sie gar nicht bemerkten, was um sie herum passiert. Sie lachten aus ganzem Herzen und wenn sie jemanden trafen, dann störte es ihn nicht. Ob sie auch einen sadistischen Sportlehrer in ihren Herkunftsländern hatten, der die Schwachen in einem Team versammelt hatte? Selbst wenn, dann hatten sie ihn wohl vergessen. Denn was heißt es schon, mit einem Ball im Gesicht getroffen zu werden, wenn du mit einem Gummiboot das Meer überqueren und danach vor unzähligen Zäunen warten musst?
Ich war nicht der einzige, der dort stand, um das Spiel der Flüchtlinge anzuschauen. Unter den Zuschauern gab es sowohl ältere Menschen, als auch Kinder. Ich sah in ihren Augen, dass sie alle gerne mitspielen würden. Alle kommentierten die Regeln, applaudierten und säufzten bei den verschiedenen Spielzügen. Alle fragten sich, wie wohl dieses Spiel in der Sprache der Spielenden heißt. Doch niemand fragte nach.
Ich habe mir geschworen, nie wieder Völkerball zu spielen. Aber ein paar mal, wenn der Ball zu mir flog, warf ich ihn zu den Spielern zurück. Vielleicht frage ich das nächste Mal, ob ich mitspielen darf...