Erstellt am: 7. 4. 2016 - 12:40 Uhr
Überzeitliche unter uns
Bescheidenheit ist nicht die Sache des englischen Autors David Mitchell. Nach dem Welterfolg seines hochkomplexen Romans "Cloud Atlas/Wolkenatlas" und der folgenden Verfilmung mit den Hollywood-Superstars Halle Berry und Tom Hanks, wollte er wohl abermals zeigen, was er drauf hat. 800 Seiten stark ist sein aktueller Roman "Die Knochenuhren", der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, und fast schon wie gewohnt, wechselt Mitchell darin Erzählhaltungen und Literaturgattungen.
Rowohlt Verlag
In "Die Knochenuhren" beginnt Mitchell aus der Perspektive Holly Sykes' zu erzählen, eines fünfzehnjährigen Mädchens aus der englischen Arbeiterschicht, das im Sommer 1984 im Streit mit ihrer Mutter von zu Hause ausreißt. Am Ufer der Themse hat sie eine schräge Begegnung mit einer verwirrt wirkenden Frau, die sie im Austausch für eine Tasse Tee um einen recht merkwürdigen Gefallen bittet, ihr in der Zukunft doch Asyl zu gewähren. Um die scheinbar Betrunkene abzuwimmeln, willigt Holly ein, ohne nachzufragen, was das für ihre Zukunft bedeuten könnte.
Dass die Frau übermenschliche Kräfte besitzt und sich auf einer Mission befindet, soll Holly erst ein halbes Jahrhundert später klar werden, doch schon am nächsten Tag wird ihre Zusage schlagend. Nach einem rasanten Infight mit Psycho-Kräften, in dem Menschen wie Streichhölzer geknickt oder durch die Luft geschleudert werden, wird Holly zur Wirtin für eine leidende Seele, was allerdings aus ihrem Gedächtnis gelöscht wird.
Von Thatcher zur Post-Apokalypse
Nach dieser ersten Fantasy-Kostprobe fährt Autor David Mitchell die übernatürlichen Elemente wieder zurück, die zumindest in der deutschen Übersetzung sehr abgedroschen und billig klingen. Stattdessen präsentiert er uns durchaus gelungene Gesellschaftspanoramen im Abschnitt von ca. jeweils einem Jahrzehnt: In Hollys Episode sind das die Bergarbeiterstreiks und die gesellschaftliche Polarisierung Margareth Thatchers England, danach kommen etwa der Aufstieg der New Economy in den 1990ern, eine Abrechnung mit dem Irak-Krieg der Bush/Blair-Ära bis zu einer dystopischen Zukunft ohne Ressourcen.
Während die Erzähler wechseln, bleiben die einzigen Konstanten in den Kapiteln Holly, zu der jede/r eine Verbindung hat, und phantastische Ereignisse, die sich zwischen die Zeilen mogeln. Sie versprechen einen möglichen Endkampf zweier Fraktionen unsterblicher, überzeitlicher Gestalten, den Horologen und den Anachoreten, die Mitchell wohl aus dem Baukasten der fantastischen Literatur zusammengestöpselt hat: Gute gegen Böse, Fleischfresser gegen Vegetarier, kein Klischee darf fehlen und schon gar nicht mythisch klingende Namen:
"Wir sind die Anachoreten der Kapelle der Dämmerung des Blinden Katharers vom Thomasiter-Kloster am Sidelhorn Pass. Ein wahrer Bandwurmtitel, da stimmen Sie mir sicher zu, daher nennen wir uns einfach die Anachoreten."
Angeberei
Über 500 Seiten voller Cliffhanger dauert es, bis alle Fäden des Romans zusammengeführt werden und es zu einem turbulenten Showdown kommt, der dann aber auch nicht mehr alles rausreißt. Dass Mitchell aber seine Verbindung aus Fantasy und Sozialkritik ernsthaft betreibt, muss man wohl ohnehin stark in Zweifel ziehen, wenn er eine seiner Romanfiguren - ausgerechnet einem Literaturkritiker - schreiben lässt: "Die Mystery-Elemente der Nebenhandlungen stehen in so haarsträubendem Widerspruch zum welterklärerischen Habitus des Romans, dass es weh tut." Und genau darauf scheint es Mitchell anzulegen.
Den LeserInnen tun aber genau solche selbstreferentiellen Verweise weh, die Mitchell mehrfach einbaut. Sie entlarven den Autor als großen Angeber, da kann er noch so oft ironisch zwinkern. Die verschiedenen Fäden des Romans kann er zwar alle wieder zusammenführen, aber originell ist anders und Mitchells Roman nur halbgar. Fans und Verteidiger wird er wohl trotzdem finden, und jemanden, der "Die Knochenuhren" verfilmt, vielleicht auch.