Erstellt am: 29. 3. 2016 - 17:00 Uhr
Es geht ums Ganze
Crossroads Festival für Dokumentarfilm und Diskurs, 1. bis 10. April, Graz
Ein Ding der Unmöglichkeit vollbringt das Crossroads Festival: Sehr lässig und gemütlich schaut man im Forum Stadtpark Dokumentarfilme, die aufwühlen. Die Brisanz und die Kritik dieser Dokus betrifft Grundsätzliches: Wie leben wir überhaupt? Und wie wollen wir leben?
Als Festival für Dokumentarfilm und Diskurs kommt beim Crossroads in Graz auch im fünften Jahr der Aktivismus nicht zu kurz. Tageweise widmet man sich großen Themenkomplexen: "Kapitalismus, Krise, Gegenstrategien", Feminismus, Mensch-Tier-Beziehungen, solidarische Landwirtschaft und Ernährungssouveränität sowie Geschichten Geflüchteter. Unter dem Schlagwort Systemwandel statt Klimawandel wird drei Tage hindurch der Zustand des Planeten betrachtet.
"After one look at this planet every visitor from outer space would say 'I want to see the manager'". Das Zitat William S. Burroughs' passt zu jeder der 18 aktuellen Produktionen, die Josef Obermoser für das Crossroads ausgewählt hat. Meist ausgehend von einer Alltagsfrage gehen die RegisseurInnen Dingen auf den Grund. Was der Manager zu sagen hat, wird sich in vielen Fällen als erstaunlich wenig erweisen. Dann wird gleich auch den LobbyistInnen ein Besuch abgestattet und die Verbindungen der Mächte aufgerollt.
Eröffnet wird mit "Racing Extinction" von Louie Psihoyos, der 2010 für "The Cove" den Oscar für den besten Dokumentarfilm gewann.
Racingextinction.com
Österreich- und Europapremieren
Manche Recherche auch der mit minimalen Budget realisierten Projekte ist so arg, dass man laut lacht. Zudem ist ein Großteil der internationalen Filme schön fotografiert und setzt auf einen Spannungsbogen, der von einer Ohnmachtshaltung zur Ermächtigung führt. Die Vorführungen im zumeist englischsprachigen Originalton tun das ihre.
Für "Requiem for the American Dream" gab der Linguist und politische Aktivist Noam Chomsky vier Jahre hindurch immer wieder Interviews. "Professor Chomsky Explains It All for you", urteilt ein Kritiker. Hierzulande ist der Film erstmals zu sehen.
Neugierig kann man auch sein auf "The Mask You Live in": Die Regisseurin und Feministin Jennifer Siebel Newsom fragt, wie Männlichkeit konstruiert wird und wie eine Alternative möglich wäre, die Buben und junge Männer nicht auf sich zurückweist.
Die Eintrittspreise verstehen sich beim Crossroads Festival übrigens als empfohlene Unkostenbeiträge.
Bereits zum wiederholten Male wird "This Changes Everything" im Forum Stadtpark zu sehen sein: Naomi Kleins Recherche für ihr gleichnamiges Buch, das Klimawandel endlich erfassbar macht, führten auch Avi Levis auf alle fünf Kontinente. Seitdem interessiert sich selbst die Vogue für Klimawandel. Und noch zwei Empfehlungen für kluge Unterhaltung:
"Bikes vs. Cars"
Mehr Menschen würden in der dänischen Hauptstadt Rad fahren als in den USA. What?! Auch in Kopenhagen hat der schwedische Filmemacher und Journalist Fredrik Gertten für "Bikes vs. Cars" gedreht. Der Score weist klar aus, auf welcher Seite Gertten steht. Ein verzweifelnder Autofahrer deutet auf die Anarchie in den Straßen.
In São Paulo kommt jede Woche ein/e RadfahrerIn im Stadtverkehr ums Leben. Sechzig Prozent des Stadtraums werde für Garagen benötigt, erzählt eine Professorin für Städteplanung, die keine öffentliche Verbindung zu ihrem Arbeitsplatz hat und unbeholfen Auto fährt. Während in Los Angeles ein Familienvater sein Kleinkind ins Lastenrad setzt und im kalifornischen Irvine ein Porschesammler AutoschauerInnen anstrahlt. Los Angeles wird als exemplarisches Beispiel eingeführt, wie der öffentliche Verkehr dem Individualverkehr weichen musste. Aktivistinnen und begeisterte RadfahrerInnen wie Aline Cavalcante lehnen sich auf. Über sie schafft "Bikes vs. Cars" Städteporträts in den Rushhours. Über die Automobilindustrie erfährt man nichts Neues.
Janice D ́Avila
"An Omnivorous Family's Dilemma"
Schweinsgeschnetzeltes oder Hühnchen? Eigentlich interessiert sich die Südkoreanerin Yun Hwang für Raubkatzen in Zoos. Doch mit der angeblichen Entdeckung einer neuen Form der Schweinegrippe 2011 ändert sich ihr Interesse. Aber ein lebendes Schwein anschauen zu können, das erweist sich schwieriger, als Tiger zu fotografieren. Dabei existieren zehn Millionen Schweine in Südkorea.
Die Bilder, die Yun Hwang von der Massenvernichtung der Nutztiere gedreht hat, sind nur wenige Sekunden in ihrer DIY-Doku "An omnivorous family's dilemma" zu sehen. Lebend hat das Land Millionen Tiere in schnell ausgebaggerte Gruben geworfen und lebend begraben.
CinemaDal
Zehn Milliarden und wie werden alle satt? Das diskutieren am 2. April Ulli Klein von KleineFarm, Andreas Exner (Social Innovation Network) und Sigrun Zwanzger (AGEZ) beim Crossroads.
Auf einem kleinen, althergebracht bewirtschafteten Bauernhof geht einem das Herz für Schweine auf. Zutiefst berührend sind die Szenen, wie eine Sau ihre Kleinen vor der Kastration zu verstecken versucht. Tatsächlich hat man sich vielleicht wie Yun Hwang vor Beginn ihrer Recherche nicht für dieses intelligente Tier interessiert. "An omnivorous family's dilemma" war auf der Berlinale 2015 zu sehen, beim Crossroads hat der Film Österreich-Premiere. Es ist ein ruhige, einfach gemachte Doku, deren Wirkung man nicht in den ersten Minuten unterschätzen sollte. Die Frage, was auf den Tisch kommt, kann Beziehungen sprengen.