Erstellt am: 27. 3. 2016 - 16:35 Uhr
Flimmern
Ich war als Kind einmal mit der Schule auf Bildungsreise in England. Zwei Wochen wurden wir von Schloss zu Schloss gekarrt. Die Kinder meiner Gastfamilie hatten Läuse, was ich anhand eines Nissenkamms im Badezimmer festgestellt hatte, und das einzige Highlight der Reise, der Besuch bei Madame Tussauds, war natürlich für den letzten Tag anberaumt. Ins Kino wurden wir am programmfreien Sonntag nicht gelassen, weil in England die Altersfreigaben kontrolliert wurden. So kauften wir Spraydosen - unlängst im Fernsehen in einem Beitrag über ein neues Ding namens HipHop gesehen - im Hardware Store. Das Problem, das sich nun stellte, war, dass keiner eine Ahnung hatte was nun gesprayt werden sollte. Ist auch nicht so einfach sich mit elf Jahren einen knackigen, zur Revolution auffordernden Slogan auszudenken. Die anderen sprühten dann den Namen des unbeliebten Mathematiklehrers an die Wand. Ich entschied mich für ein die Sinnlosigkeit dieser Existenz in knackige zwei Worte packendes "No Exit".
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Der assoziative FM4 Wochenrückblick
Die andere lebhafte Erinnerung an diese Reise ist Shakespeares Haus in Stratford-upon-Avon. Das Einzige, das mich in meiner frühpubertären Ignoranz, die ich bis heute nicht ganz verloren habe, an dem 400 Jahre alten Teil fasziniert hat ist, dass Essensreste einfach über eine Falltür im Tisch auf den Boden geworfen wurden, wo sie von den im Haus herumstreunenden Hunden und Ratten gegessen wurden. Ein innenarchitektonisches Teil, das Bewunderung und Faszination bei mir auslöste. Der Besuch hat mir Shakespeares Werk und das 17. Jahrhundert nicht nähergebracht. Mir war nicht klar, was seine Wohn- und Lebensumstände über sein Werk aussagen könnten. Ansatzweise verstanden habe ich die Wechselwirkung Wohnsituation und Werk zweieinhalb Jahrzehnte später, als ich Beatriz Preciados Buch Pornotopia - Architektur, Sexualität und Multimedia im Playboy - gelesen habe.
playboy
Touristische Besichtigungsfahrten verweigere ich nach wie vor, ich mache keine Urlaubsfotos und verweigere Souvenirs, bis auf Band-T-Shirts. Ich glaube nicht, dass man Jim Morrison einen Mikromillimeter näher ist, wenn man auf seinem Grab campiert, oder dass der Geist von Johnny Cash in der letzten Kaffeetasse, aus der er getrunken hat, haust. Dennoch zahlen Fans Unsummen für diese Souvenirs verstorbener Stars und lebende beklagen sich regelmäßig, dass sie besonders gut auf ihr Zeug aufpassen müssen weil ihnen sonst alles gestohlen wird.
Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang auch zu bemerken, dass OJ Simpson in Las Vegas im Gefängnis saß, weil er einen Raubüberfall begangen hatte, um Souvenirs aus dem 90er-Mordprozess gegen ihn selbst zurück zu stehlen. Er hatte mit Waffengewalt seine T-Shirts, Baseballs und ähnlichen Krims-Krams von dubiosen Souvenirhändlern zurückgeholt.
Shakespeare, bzw. seine sterblichen Überreste, hat es noch schlimmer erwischt. Letzte Woche hat sich ein hunderte Jahre altes Gerücht bestätigt. Sein Schädel wurde irgendwann in den letzten 150 Jahren gestohlen. Wissenschaftler haben letzte Woche Shaekespeares Grab gescannt und da war kein Schädel drin.
Jesus Christus, dessen Himmelfahrt dieses Wochenende gefeiert wird, hat einschlägigen Quellen zufolge ein leeres Grab zurückgelassen, keine Knochen, die Übeltäter stehlen könnten. Eines der Souvenirs, die dieser Welt von ihrem, wie manche meinen, Erlöser verblieben sind, ist die heilige Vorhaut (sanctum praeputium) von Jesus Christus.
Die heilige Vorhaut ist der symbolische Verlobungsring der Bräute Christi und Jagdtrophäe von Genetikern, die zu oft Indianer Jones gesehen haben und einen neuen Jesus aus seiner Vorhaut klonen wollen.
cc
Gerüchte darüber, dass Shakespeare aus seinem gestohlenen Schädel geklont werden soll, gibt es bis jetzt noch nicht. Aber es gibt eine im 19. Jahrhundert populäre Pseudowissenschaft namens Phrenologie, deren Vertreter behaupteten, es gäbe einen Zusammenhang zwischen Schädel und Gehirnform, Charaktereigenschaften und Intelligenz. Vielleicht hat ein ambitionierter Phrenologe bereits vor mehreren Jahrzehnten versucht Shakespeares sprachliches Talent so zu entschlüsseln. Vielleicht hat aber auch ein gegenwärtiger Superbösewicht wie OJ Simpson, Kim Jong Un oder jemand wie Patrick Bateman den Schädel als Briefbeschwerer am Schreibtisch stehen und rennt manchmal in Hamlet-Pose durchs Büro.
Patrick Bateman ist der American Psycho, ein von dem Schriftsteller Bret Easton Ellis erschaffener Wall Street-Broker und Serial Killer, der sich auch gern Souvenirs seiner Opfer behielt, Vorhäute und Ähnliches.
Diese Woche hat Bret Easton Ellis wieder über den American Psycho gesprochen und hat verkündet in welchem Feld Patrick Bateman gearbeitet hätte, wenn das Buch in einer anderen Dekade, in einem anderen Entwicklungsstadium des Kapitalismus entstanden wäre. In den Nullerjahren hätte der American Psycho in Silicon Valley gearbeitet und hätte sich stärker der Dokumentation seiner Verbrechen im digitalen Raum gewidmet, in der Gegenwart wäre er Dotcom-Millionär im Ruhestand, würde mit Zuckerberg abhängen und in von Kanye West designten Yeezy Hoddies Girls auf Tinder auschecken. Welch widerlich grausames Bild!
matthewherbert
Das musikalische Genie Mathew Herbert hat, wie die Shakespeare-Archäologen, einen Laser eingesetzt. Er hat aber nicht nach verschwundenen Körperteilen gesucht, sondern Rillen auf Tacos, Melanzanis, Kartoffeln, Schinken und Käse graviert und hat mit ihnen ein DJ Set gespielt. Die essbaren Platten, Tonträger, von denen nichts zurückbleibt, wurden in der London Science Gallery im Rahmen eines Symposiums namens Fed Up - the Future of Food präsentiert. Ein Mann nach meinem Geschmack, keinen Mist machen und keine Souvenirs hinterlassen.