Erstellt am: 25. 3. 2016 - 20:55 Uhr
Fearlove
Jetzt ist es also schon wieder eine Woche her, dass ich von der Österreich/Deutschland-Tour mit John Howard & The Night Mail auf die Insel zurückgekehrt bin. Man verzeihe die späte Rückmeldung, es gab Viren auszukurieren und Deadlines einzuhalten, was nicht immer so gut zusammengeht.
Erwähnen tu ich all das eigentlich nur, weil ich jene verlängerte Woche auf Tour hauptsächlich im Auto mit Andy Lewis verbrachte (ich hab über diesen distinguierten Bassisten/DJ/Musikenthusiasten hier vor ein paar Jahren schon einmal einen ganzen Blog geschrieben, den ich jetzt nicht finde – man suchmaschiniere ihn einfach in Zusammenhang mit Acid Jazz, Paul Weller, Blow Up...).
Nach dem Konsum aller Mix-CDs, die Andy mitgebracht hatte, verbrachten wir insgesamt mindestens 20 Autobahnstunden mit Reden, geschätzte 10 davon über das Brexit-Ding, das nicht nur euch bereits ziemlich auf die Nerven geht.
Es freut mich mitteilen zu dürfen, dass Andy ein entschiedener Gegner des Separatismus ist, nicht nur weil sich das für einen alten Leftie so gehört, sondern auch, weil er befürchtet, dass ein Brexit einen ganz brutalen, reaktionären Backlash in Großbritannien auslösen könnte.
Für den Fall, dass die EU-Separatist_innen gewinnen, sagt er eine Rückkehr zur Todesstrafe binnen zehn Jahren voraus.
Alles Schwarzmalerei und Panikmache, wie kommt der auf die Idee, hätte man meinen mögen.
Bis dann die Anschläge von Brüssel passierten, nach denen sich selbst salonfähigere Brexiters wie die Daily Telegraph-Journalistin Allison Pearson nicht zu schade waren, darauf hinzuweisen, dass die EU-Hauptstadt auch die Hauptstadt des Jihadismus in Europa sei. Mit einem Mal war der Brexit ein Sicherheits-Thema.

Wir brauchen uns gar nicht erst mit der Feststellung aufzuhalten, dass eine solche Instrumentalisierung des Todes Dutzender Menschen nicht so ganz doll pietätvoll war. Sowas ist von Brexiters zu erwarten, und zeigt Unentschlossenen mit einigermaßen funktionierendem moralischem Kompass wenigstens, wie die ticken.
Soll sein.

Wir könnten immerhin feststellen, dass a) die bisherigen Anschläge in Großbritannien immer von eigenen britischen Zellen ausgingen und b) Großbritannien jetzt schon nicht mit im Schengen-Abkommen ist, die Reisefreiheit von EU-Bürger_innen also sicher nicht das Vorhandensein von militanten Islamist_innen auf der Insel bedingt.
Aber das hieße die Ausmaße der durch die Köpfe dieser Leute spukenden Fantasie namens Festung Großbritannien zu unterschätzen.
Vorgestern veröffentlichte niemand geringerer als der ehemalige Chef des Geheimdiensts MI6 Richard Dearlove (ein Name wie von Ian Fleming erfunden) im Prospect Magazine einen bemerkenswerten Artikel, in dem er erklärt, ein Brexit hätte kaum Auswirkungen auf die Sicherheit Großbritanniens.
Wer je ein Beispiel für die maßlose Arroganz des britischen Establishment gesucht hat, hier geht die Parade ab: In Europa sei Großbritanniens Geheimdienst nicht nur der beste, sondern auch „der reifste“, sagt er. Man kann sich das gut vorstellen: Gentleman-Agenten, umgeben von kontinentalen Kindern.
Gleich zu Beginn seines Artikels nennt Sir Richard zwei „potenziell wichtige Sicherheitsgewinne“ eines Brexit: „die Möglichkeit, die Europäische Menschrenrechtskonvention auf den Müll zu werfen“ (er verwendet tatsächlich das Wort „to dump“) und „größere Kontrolle über Einwanderung aus der Europäischen Union.“
Beides erstaunliche Behauptungen.
Dass die Menschenrechtskonvention nicht von der EU, sondern vom Europarat abhängt, sollte ein ehemaliger Geheimdienstchef eigentlich wissen. Aber egal, Europa ist Europa. Und dass Menschenrechte was furchtbar Lästiges zum Ausmüllen sind, ist in der Welt des Richard Dearlove so sonnenklar, dass nur ein kurzer Verweis in Parenthese auf die rechtlichen Schwierigkeiten Großbritanniens bei der Ausweisung des Hasspredigers Abu Hamza reicht, um sie loszuwerden.
Kann sein, dass mein Beifahrer Andy Lewis mit seinen Brexit-Befürchtungen also nicht übertrieben hat. Wer so argumentiert wie Dearlove (Menschenrechtsverächter wie er und der Justizminister Michael Gove, auch ein Brexiter übrigens, versprechen stattdessen eine „British Bill of Rights“), der will in Wahrheit auf ganz was Anderes hinaus. Ein bisschen Folter, ein bisschen Todesstrafe vielleicht.
Was wiederum die Einwanderung aus der EU als Sicherheitsthema – und nicht etwa als Arbeitsmarktthema – betrifft, kann Dearlove angesichts der ohnehin schon strengen Grenzkontrollen als Verschärfung eigentlich nur mehr eine Visumspflicht vorschweben. Im Ernst? Gegenseitig? Viel Spaß beim Urlaub.
Der Ex-MI6-Chef zitiert dann auch noch die „Third Party Rule“, welche jene depperten Politiker_innen, „die lose über Intelligence-Sharing sprechen, selten begreifen“: Dass man nämlich Informationen, die man von einem Partnerland kriegt, nicht an ein Drittland weitergeben kann, weil man damit seine Quellen gefährde. Im BBC-Morgenjournal (Today Programme) haben sie heute gleich General Michael Hayden vom CIA interviewt, der Dearlove prompt beipflichtete und meinte, Intelligence werde prinzipiell nur von einer Nation zur anderen weitergegeben. Nennt mich einen Kuschelspion, aber ich hätt' halt gedacht, wenn man es mit einem grenzübergreifend organisierten Netzwerk zu tun hat, sollte man solche Kalter-Krieg-Regeln vielleicht ein bisschen überdenken.
Das hat schließlich sogar die Musikindustrie im Streaming- und Filesharing-Zeitalter irgendwann eingesehen, die bemustert mich nach langem Sträuben mittlerweile glatt für Österreich und Deutschland gleichzeitig mit noch geheimen Songs. Und die Welt ist nicht eingestürzt.
Nein, sorry, ist sie natürlich schon.
Aber nicht deshalb.
You see what I mean.
Leute vom Geheimdienst-Establishment wie Richard Dearlove sehen das nicht. Sie sind verstockt und snobistisch.
Auch das war eigentlich vorauszusetzen.
Was mich bei all dem Obigen aber wirklich, wirklich überrascht, ist die offenbar auch auf höchster Kompetenzebene bestehende, britische Unfähigkeit, sich in die destabilisierende Wirkung eines Brexit auf den Kontinent hineinzudenken.
Einfach nicht zu kapieren, dass im derzeitigen Klima ein Brexit genau jenes pro-chauvinistische Signal ist, das die Le Pens und Straches Europas das entscheidende Stück näher an die Macht heranbringen würde. Das wären dann die Leute, mit denen MI6 bilateral seine Geheimnisse teilen muss.
Aber vielleicht wünscht sich einer wie Sir Richard Dearlove das ja insgeheim so. Mit Menschenrechtsbedenken würde sich ein zersplittert nationales, rechts-autoritär regiertes Europa jedenfalls nicht aufhalten.
Okay, ich sehe es ein, ich war in meinem Überraschtsein immer noch naiv. Geheimdienste wollen nicht wirklich Sicherheit, die macht sie bloß arbeitslos. Was sie wollen, ist schnüffeln ohne Einschränkung und eine schöne internationale Krise, die ihr Budget in die Höhe treibt. Und wenn sie sich das vom Brexit erhoffen, dann wird diese Abstimmung in knapp drei Monaten noch ein Stückchen schicksalshafter als eh schon angenommen.
Andy glaubt übrigens ganz sicher, dass Großbritannien mit großer Mehrheit bleiben wollen wird. 58 zu 42 Prozent, sagt er. Am 24. Juni reden wir weiter.
PS: Ein paar Bilder von unserer Reise. Auf deutschen Autobahnraststätten kann man heutzutage also solche Sachen gleich neben den Lustigen Taschenbüchern kaufen. Ist jetzt normal, oder was? (wäre in Großbritannien übrigens illegal) Darf ich noch sagen, dass ich mich als Durchreisender da eher wundere und ziemlich mulmig fühle bei dem Gedanken, wer das aller mit sich führt? Oder bin ich dann auch schon wieder weltfremd und naiv?

Robert Rotifer

Robert Rotifer

Robert Rotifer