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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

26. 3. 2016 - 15:48

Traumwandlerische Rebellion

"Mustang", das Spielfilmdebüt der jungen türkischen Regisseurin Deniz Gamze Ergüven, ist eine kleine Sensation.

"Mustang" ist seit 24.3.2016 in den österreichischen Kinos zu sehen.

Am Anfang dieses Films fühlt man sich tatsächlich an die frühe Sofia Coppola erinnert. Mit einem zärtlichen, verträumten Blick beobachtet die türkische Regisseurin Deniz Gamze Ergüven ihre jungen Protagonistinnen bei einem Strandausflug. Die fünf verwaisten Schwestern, die im Mittelpunkt von "Mustang" stehen, haben aber nichts mit den "Virgin Suicides" in Coppolas Debütstreifen gemeinsam. Während die Töchter der US-Familie Lisbon ein schleierhaftes Geheimnis umgibt, strahlen ihre türkischen Pendants nichts Mysteriöses aus. Es sind unbeschwerte Mädchen, deren Anbandeleien mit Burschen albern, kokett und unschuldig zugleich wirken.

Mustang

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Eingekerkert im Familiengefängnis

Zumindest würde man die Eröffnungssequenz so harmlos betrachten, wenn es sich um einen beliebigen Strand in Italien handeln würde oder auch um den Beginn eines kalifornischen Teenagerfilms. "Mustang" spielt aber in einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste und der Kontrast aus bestens vertrauten Jugendszenarien und der patriarchalischen Strenge, die in diesem Ort regiert, ist der Dreh- und Angelpunkt dieses großartigen Erstlingswerks.

Als die rigide Großmutter von dem Geplänkel mit den Buben erfährt, verdunkelt sich die Stimmung in dem einsam liegenden Haus im Grünen. Die vermeintliche Obszönität muss drakonisch bestraft werden und vor allem sollen sich ähnliche Grenzüberschreitungen in naher Zukunft nicht mehr ereignen. Der cholerische Onkel Erol (Ayberk Pekcan) wird zur Hilfe gerufen und kerkert die Schwestern (Fantastisch: Günes Sensoy, Doga Zeynep Doguslu, Elit Iscan, Tugba Sunguroglu, Ilayda Akdogan) im wahrsten Sinne immer mehr ein. Gleichzeitig sollen hastig initierte Zwangsheiraten die Protagonistinnen von weiteren Versuchungen fernhalten.

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Sonnendurchflutete Leichtigkeit und lakonischer Widerstand

Rasch entwickelt sich die Geschichte dieser fünf blutjungen Frauen zu einer radikalen Anklage gegen eine erstickend repressive Horrorumgebung. Das Schöne am Erzählstil von Deniz Gamze Ergüven ist aber, dass sie auf billige dramaturgische Tricks ebenso verzichtet wie auf effekthascherische Offensichtlichkeit. Eine sonnendurchflutete Leichtigkeit umweht ihren Film, passend zu der lakonischen Art, mit der sich die Schwestern über diverse Verbote hinwegsetzen. Der melancholische Score von Warren Ellis unterstützt diese spezielle Stimmung.

Aber gerade dadurch, dass die Regiedebütantin und ihre Coautorin Alice Winocour der jugendlichen Lebensfreude selbst in grausamsten Momenten vertraut, dass sie nur mit den Mitteln der poetischen Beobachtung betört, mitreißt und schockiert, strahlt "Mustang" einen widerständischen Geist aus, der in der Türkei für heftigste Kontroversen sorgte, Auslands-Oscar hin oder her. Es sind eben keine politischen Rebellinnen, die sich hier gegen schrecklich verstaubte Traditionen auflehnen. Die wilden Pferde des Filmtitels, die sich nicht zähmen lassen, wirken wie ganz normale Teenager, die einfach bloß lachen und lieben wollen und in einer der berührendsten Szenen gemeinsam ein Fußballspiel besuchen.

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Man kann natürlich dezitierte Islam-Kritik aus diesem Coming-Of-Age-Drama herauslesen, aber noch viel mehr ein universelles Plädoyer gegen religiöse Zwangsmoral. Denn es fällt nicht schwer sich ein abgeschiedenes heimisches Bergdorf vor nicht allzulanger Zeit als Schauplatz vorzustellen, wo die irrationale Diktatur des Katholizismus junge Menschen unterjochte. Wie aufmüpfig und unspröde Deniz Gamze Ergüven dieses schwierige Thema in "Mustang" verpackt, ist wirklich eine kleine Sensation.