Erstellt am: 20. 3. 2016 - 06:00 Uhr
"Träumen trau ich mich nicht."
Minderjährige Flüchtlinge in Österreich
Elf Prozent aller, die hierzulande einen Antrag auf Asyl gestellt haben, sind Kinder und Jugendliche, die allein angekommen sind. Wer kümmert sich um sie?
- Ein Interview mit Katharina Glawischnig von der Asylkoordination.
- Ein Lokalaugenschein bei Connect Erdberg, wo 500 junge Flüchtlinge wohnen. Vereine und Initiativen aus dem Bezirk haben sich zusammen getan, um ihnen Beschäftigung und Weiterbildung zu bieten.
Hunderte geflüchtete Kinder und Jugendliche bräuchten einen Platz in einer Pflege- oder Gastfamilie. Doch viele Pflegewillige schrecken davor zurück, fürchten sich vor Überforderung und von den Behörden kommt kaum Unterstützung.
Einblick in den Alltag eines 16-jährigen Syrers bei seiner Wiener Gastfamilie.
Claudia Unterweger / FM4
Kaffeejause bei Tarek und seiner Wiener Gastfamilie
Der 16-jährige heißt nicht wirklich Tarek, seine echte Identität bleibt geschützt.
Die Brownies stehen bereit, Gastmutter Erika hat extra für heute ein neues Rezept ausprobiert. In der Wohnzimmerecke döst friedlich Nelly, der Familienhund.
Die Begrüßung ist herzlich. Gastmutter Erika und ihr Mann Jan sind da, ihr 11-jähriger Sohn Enea springt mir entgegen. Als ich Tarek begrüße, spüre ich seinen sanften Händedruck. Er senkt den Blick, lächelt schüchtern. Seit fünf Monaten lebt er in diesem Haushalt.
Für Tarek fühlt sich das Leben hier an wie mit seiner eigenen Familie, sagt er wie selbstverständlich: "Ich lebe in Österreich mit meiner zweiten Familie." Seine Gasteltern spricht er meist mit ihren Vornamen an, aber manchmal nennt er seine Pflegemutter auch Mama. "Kommt immer darauf an, was er braucht", lacht Gastvater Jan.
Da wo Tareks Deutsch noch nicht ausreicht, kommt Google Translator zum Einsatz. Und dann gibt es ja auch noch Hände und Füße. Dennoch bin ich froh, dass Nour zum Interview mitgekommen ist. Nour ist 19, ebenfalls aus Syrien geflüchtet und dolmetscht für uns. Ich spüre die augenblickliche Verbindung zwischen den beiden Burschen, wie sich Tarek entspannt, als die beiden auf Arabisch plaudern.
Mir wird bewusst, wie belastend es für den Jugendlichen sein muss, sich im Alltag noch kaum verständlich machen zu können. So vieles für sich behalten zu müssen.
Claudia Unterweger / FM4
In seiner Heimatstadt in Syrien gäbe es kaum noch Leben, erzählt Tarek. Als das Militär beginnt 15-und 16-jährige für die Armee zu rekrutieren, beschließen Tareks Eltern seine Flucht. Seine Eltern und seine Schwester sind immer noch dort. Jeden Tag ist er mit ihnen über Whatsapp in Kontakt. Auch heute hat er schon mit ihnen gesprochen, nachdem er über Facebook von einer Autobombe in ihrem Stadtviertel erfahren hat. Tarek legt sein Handy kaum aus der Hand. Live Kriegsvideos aus Syrien, dazu Brownies und Kaffeejause mitten in Wien. Es fühlt sich surreal an.
Claudia Unterweger / FM4
Im Sommer 2015 haben Erika und Jan den Entschluss gefasst, einen syrischen Jugendlichen aufzunehmen. "Wir wollen nicht in zehn Jahren sagen: warum haben wir nichts gemacht? Wir haben uns überlegt: was wir wirklich gut können, ist einer einzelnen Person zu helfen. Im Zuge dessen haben wir festgestellt, dass wir nicht nur einem Jugendlichen helfen, sondern auch der restlichen Familie." Über Vermittlung einer NGO-Mitarbeiterin lernen sie Tarek kennen, zehn Tage später zieht er bei ihnen ein.
Plätze- und Betreuungsmangel für jugendliche Flüchtlinge
Aufgrund des Mangels an kindgerechten Quartieren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge suchen Jugendämter und NGOs verstärkt nach Pflegeeltern.
Zweitausend Jugendliche warten derzeit in Bundesbetreuung auf Asyl, viele von ihnen in Unterkünften, in denen sie unter Erwachsenen leben müssen, ohne adäquate Betreuung, ohne Beschäftigung. Allein im Lager Traiskirchen warten achthundert Burschen. Tarek war einer von ihnen, wochenlang hat er dort auf dem Boden geschlafen, erzählt er.
Doch viele Pflegewillige scheuen davor zurück, einen Jugendlichen aufzunehmen, noch dazu aus einem Kriegsgebiet. Tatsächlich muss die Vermittlung behutsam und individuell geschehen, sie ist auch abhängig davon, wie bindungsfähig oder traumatisiert die Minderjährigen sind. Derzeit ist es jedoch Glücksache, ob und wie ein Jugendlicher den Weg zu einer passenden Familie findet.
Es mangelt auch an Betreuung und finanzieller Unterstützung durch die Behörden. Personen, die Gasteltern werden wollen, erhalten einen Drei-Tages-Kurs zur Vorbereitung. Ab Mai soll zumindest in Wien ein neuer Verein die Kinder und Jugendlichen gezielt vermitteln und betreuen helfen.
Leben im neuen Leben
Claudia Unterweger / FM4
Erika und Jan sind beide im therapeutischen Bereich tätig, das macht vieles einfacher. Gemeinsam leben statt Wertekurs, so funktioniert aus ihrer Sicht Integration. "Das Bemühen von seiner Seite her ist extrem groß, sich sofort bei uns einzuleben, unsere Regeln, Tagesablauf mitzuleben. Er kennt den Respekt Eltern gegenüber, genauso den Respekt Frauen und Mädchen gegenüber."
Und ebenso funktioniere der Lernprozess in die andere Richtung, sagt Gastvater Jan: "An Tarek erkennen wir, wie die Syrerinnen und Syrer Gastfreundschaft leben. Ohne Hintergedanken, das kennen wir nicht mehr."
Wichtig ist ein stabiler, geregelter Tagesablauf für die Jugendlichen, aber Tarek ist nicht mehr schulpflichtig. Mit viel Engagement konnte Gastmutter Erika einen Platz für ihn an ihrem alten Gymnasium auftreiben. Ein Mädchen in Tareks Klasse spricht Arabisch und übersetzt für ihn. Vor dem Krieg war er ein guter Schüler an einer Privatschule, erzählt der 16-Jährige. Doch im Krieg war der Schulbesuch kaum mehr möglich, ohne Wasser und Strom. Jetzt ist schwierig, wieder die Bücher aufzuschlagen. Bei den Hausaufgaben und beim Deutsch lernen unterstützt ihn seine Gastfamilie. Seine Freizeit verbringt Tarek im Fitnesscenter und auf dem Fußballplatz mit anderen Burschen aus Syrien und dem Irak. Kennengelernt hat er sie in Traiskirchen. Und manchmal unternimmt die Familie gemeinsame Ausflüge aufs Land. Dort hält Erika ein altes Therapiepferd, auf dem ihr Sohn Enea und sein Gastbruder Tarek reiten können.
Claudia Unterweger / FM4
"Alles ist besser als in Syrien", antwortet Tarek knapp auf die Frage, wie er das Leben in Österreich empfinde, "alles ist besser als Krieg." Was er eines Tages machen wolle, wisse er nicht: "Ich habe keine Träume. Ich will erst einmal nur Deutsch lernen. Weiter traue ich mir nicht zu denken. Ich hab Angst, dass meine Träume nicht in Erfüllung gehen."
Der nächste Schritt ist die Familienzusammenführung. Erika und Jan setzen derzeit alle Hebel in Bewegung, um die leiblichen Eltern und die Schwester des 16-Jährigen nach Österreich in Sicherheit zu bringen. Eine weitere Station in einem schier endlosen bürokratischen Hürdenlauf, schildert Gastmutter Erika. "Irgendwann mach ich einmal ein Kabarett daraus", lacht sie. "Aber unser Gastsohn ist es wert."