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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

17. 3. 2016 - 20:17

The daily Blumenau. Thursday Edition, 17-03-16.

The world in a nutshell. Über die Verfügbarkeit von Wissen und die Veränderung journalistische Zugänge am Beispiel von Keith Emerson und Jessica Jones.

#populärkultur #informationoverflow

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.

Was sich beim Lesen von Keith Emerson-Nachrufen und dem Nachspüren einer verpassten Jessica Jones-Serie nebenbei an Erkenntnisgewinn verfestigt: das war früher von der Gesamtheit der Medien geleistet wurde, steckt heute in einem einzigen Wikipedia-Artikel oder Youtube-Clip.

Anlass 1: der Tod des Jimi Hendrix des Keyboards

Schuld ist der in Wien lebende entfernte Cousin meines Facebook-Freundes João, der mit täglichen Gruppenhinzufügungen wohl mein brasilianisches Portugiesisch aufpeppen will. Cousin Rudolf wollte etwas anderes: er forderte meine Beschäftigung mit dem letztes Wochenende verstorbenen Keyboard-Genie Keith Emerson ein und überwand so die Ablehnungshaltung allzu tief in diese nostalgisch verklärte, globale Mojo/Uncut-Rockschiene einzutauchen, die die glorreiche Phase als Leitkultur am Leben hält wie der Wien-Tourismus die klassische Musik.

Keith Emerson war der Jimi Hendrix seines Instruments, der Hammonds, Moogs, Yamahas und Korgs, er war der technisch versierteste und in seiner Risikonahme auch avancierteste Keyboard-Spieler der 60er und 70er. Zuerst tat er das als Bandleader der ProgRocker The Nice, dann als Leader der Supergroup Emerson, Lake & Palmer (kurz ELP), die sich sowohl über Pop-Hits als auch über geistesgestört ausufernde Live-Shows und Konzeptalben auf der Basis klassischer Werke tief ins kollektive Gedächtnis der Hochblüte der Popmusik einbrannte.

Ich habe mich mit ELP oder Emerson seit sicher 30 Jahren nicht mehr beschäftigt, und auch die erwähnten Nostalgie-Publikationen dazu immer weggeblättert/klickt. Mein Wissen über ihn und seine Band umfasst also das, was ich mir in den Jahren 75 - 85 zusammengehört und -gelesen habe. Was damals genügt hatte, um als Musikjournalist so fit zu sein ihn einordnen und beschreiben zu können, Vergleiche und analytische Schlüsse zu ziehen. Auch weil damals - zumindest aus der Distanz der österreichischen Provinz und der bereits damals historischen Sicht - nicht mehr an Informationen verfügbar war.

Wie in der ressourcenschwachen Vergangenheit Valides zustandekam

Aus Anlass seines Todes hab ich mich dann in vier, fünf längere Texte hineingeklickt, aus denen ich mehr Informationen, Verweise und Bezüge ziehen konnte als in der Gesamtheit des österreichischen Wissens von vor 30 Jahren zugänglich war. Ein mittlerweile klassisches Phänomen, das bei Figuren wie David Bowie, die seit ihren Anfängen ununterbrochen gewirkt haben, weniger auffällig wird, als bei in ihrer gesamten Bedeutung in den 70ern Gefangenen wie Emerson.

Stellt sich die Frage: ist eine Neubewertung notwendig? Nämlich sowohl die von Emerson, als auch die der damaligen Berichterstattung.

Fakt ist: sowohl in den 70ern (die ich nur als Teenager, Fan und Hörer miterlebt habe) als auch in den 80ern waren die Ressourcen beschränkt. Ein Eintauchen in die wichtigen Szenen war ohne Vorort-Präsenz nicht möglich, und die stand nicht einmal studienreisenden höheren Söhnen/Töchtern wirklich offen. US-Medien waren kaum verfügbar, wenn überhaupt mit endloser Verspätung, und sprachen ebenso wie die etwas näheren britischen Medien größtenteils in kaum entschlüsselbaren Codes, betrieben aber ohnehin hauptsächlich Heldenverehrung und Imagepolitur. So war etwa der Schlüsselroman Groupie über die britische Rock-Szene Anfang der 70er weitaus validere Infos als alle die, für die zu spät Geborenen sowieso nur als Nachreichungen empfangenen Medienberichte.

Die dramatische Veränderung der Quellenlage

So fiel Methode 1 des heutigen Popjournalismus (eklektisch-kreatives copypasting) ebenso aus wie die seltenere Methode 2, das intensive Studium von Originär- und Sekundärquellen. Denn die gab's nicht. Heute schlummert in Uni- oder anderen öffentlich zugänglichen Archiven (Bob Dylan hat unlängst Wagenladungen von Notizen, Skizzen, Ton und Bildmaterial zur Verfügung gestellt) eine Unzahl an auswertbaren Quellen; in praktisch allen Geisterwissenschaften ist die Beschäftigung mit Themen der Populärkultur eine Selbstverständlichkeit und bietet allen Interessierten neue Anhaltspunkte und Zugänge.

Vor 30 Jahren war man auf Text-Interpretation, vergleichender Musik-Analyse und freien assoziativen Fluss zurückgeworfen. Unis oder elitäre Medien griffen Pop nicht einmal mit der Feuerzange an. Das hatte aber auch zur Folge, dass ganze Freundeskreise Nachmittage lang einzelne Alben oder gar Songs hörten und sich drüber unterhielten, auch weil aufgrund der eingeschränkten Zugänge zu insgesamt deutlich weniger Popmusik mehr Zeit blieb, wohingegen heutige Konsumenten und Berichterstatterinnen hauptsächlich vom Druck der übergroßen Auswahl/Vielfalt und der der kurzen Aufmerksamkeitsspannen getrieben sind, dafür aber alle Möglichkeiten, alle Zugänge haben um schnelle Interpretationen, gezieltere Analysen und bessere Einschätzung, Einordnung und Urteilsmöglichkeiten zu finden.

Innerhalb einer komplexer ausgerichteten massenhaft verfügbaren und in die diversesten Genrebereiche ausgebreiteten Popkultur ist die schnelle Einordnung der primäre Türöffner. Die vielfach von Vertretern der alten Schule als fehlend angemahnte Tiefe/Vertiefung, die in der von mir als durchaus steinzeitlich beschriebenen Vergangenheit fast unausweichlich war, findet mittlerweile hauptsächlich im Core-Bereich statt. Man könnte auch sagen: der Nerdismus, der vor 30 Jahren noch allen etwas erzählen konnte, weil er sich der gemeinsamen Popkultur aller annäherte, hat sich in die Nischen verschoben. Und kann dort bedeutend mehr.

Anlass 2: Netflix produziert Marvels Jessica Jones

Auch da ein gestern zufällig überstolpertes Beispiel: im FM4-Studio war eine Site offengeblieben, die (Anlassfall: die aktuelle Supergirl-Serie) ein Round-Up über weibliche Heldinnen im Comic/Action-Bereich anbot. Darunter auch Jessica Jones (Superheldinnen-Name Jewel), die düstere Ausnahme-Figur aus dem Marvel-Universum, die vor etwas mehr als zehn Jahren für wein gewissen Szene-Aufsehen sorgte - auch weil weibliche Helden, denen Suff, Depro und One-Night-Stands zugestanden werden, so selten sind. Nicht nur im Comic, sondern in der gesamten Populärkultur - vom Mainstream gar nicht erst zu sprechen.

Jessica Jones ist jetzt, das war mir entgangen, eine Netflix-Serie gewidmet, die auch schon in die zweite Staffel gehen wird. Krysten Ritter, deren fabulöse kurzzeitige Junkie-Nebenrolle in Breaking Bad ihr die Hauptrolle der titelgebenden bitch in der Serie Apartment 23 einbrachte, ist Jessica Jones, kein typecasting (die Comic-Heldin hat nichts modelhaftes), durch Ritters Fähigkeit zur Brüchigkeit haut es aber offensichtlich hin.

Ich hab' außer ein paar Trailern und Ausschnitten (diese kleine Rolle der Fähigkeiten ihres Antagonisten etwa) noch nichts von der Serie gesehen, wurde aber von Filup Molina genötigt den Vorzeichen zu vertrauen. Den und sein Youtube-Video habe ich nach ein paar wenigen Recherche-Minuten gefunden. In 12 Minuten handelt Molina das dutzendfache an Analyse, Verweisen, Vergleichen, Einschätzung und Einordnung ab, was früher eine ganze Musicbox-Stunde - die als state of the art galt - zu leisten imstande war; plus Bildebene.

Über Jessica Jones lässt sich trefflichst die Rolle von Frauen in der Gesellschaft, in der Kunst, in der avancierten Popkultur darstellen, ebenso der (nicht nur amerikanische) Umgang mit der bildlichen Darstellung von Sexualität, der Einordnung von Mißbrauch, Promiskuität oder Alkoholismus. Molina leistet das alles und mehr, durchaus auf dem Level einer akademischen Arbeit und unter Einbeziehung aller klassischen journalistischen Kriterien - und das, obwohl seine Analyse selbstverständlich meinungsgetrieben ist. Denn ohne Meinung und/oder Haltung kommt keine relevante Einschätzung von künstlerischen Produktionen aus.

Die Vermittlung des Interesses, nicht des Stoffs

Das Ziel ist und war immer dasselbe: die Welt in eine Nußschale zu zwängen. Mit einer Geschichte, einem Bericht, einer Analyse nicht nur etwas über das Ausgangsobjekt, sondern auch etwas über den Kontext und damit über die Welt und die Menschen zu erzählen.
Und letztlich, das zeigen mir die beiden Zufalls-Bespiele aus den letzten 24 Stunden, ist es egal, ob ich auf nur wenige rudimentäre Grundlagen oder das Wissen der gesamten Fachwelt innerhalb eines Genres zurückgreifen kann. Es geht gar nicht so sehr um Informations- oder Wissensvorsprung. Sondern um den Umgang mit dem Material, dem Interesse am Stoff und dessen Vermittlung. Die glaubhafte Vermittlung glaubhaften Interesses, nicht die des Stoffs.