Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die Verschubladung der Welt"

Daniel Grabner

Geschichten aus on- und offline, zwischen den Zeilen und hinter den Links

18. 3. 2016 - 09:00

Die Verschubladung der Welt

Nis-Momme Stockmanns "Der Fuchs" ist vielschichtiges Nachdenken über die Beschaffenheit unserer Realität und ganz nebenbei ein packend erzähltes und berührendes Debüt.

Nis-Momme Stockmann

Privat

Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmanns Debüt hat rund 720 Seiten. Der Roman wiegt grob geschätzt einen Kilogramm, was gewisse nicht unübliche Lese-Haltungen schwierig macht. Beispielsweise kann man das Buch nicht auf dem Rücken liegend lesen, da es nach kurzer Zeit einfach zu schwer wird und es einem aufs Gesicht zu fallen droht. Auch kann man es sich nicht sitzend mit einer Hand vors Gesicht halten, dafür ist es zu dick und unhandlich, sodass die Finger vom notwendig festen Griff schon bald anfangen, weh zu tun. Was allerdings geht: in den Schoß legen; auf einen Tisch legen; beide Ellbogen auf Armlehnen abstützen und das Buch so mit beiden Händen halten; auf beide Unterarme legen, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Menschen, die Stockmanns "Fuchs" lesen, sehen deswegen vermutlich meist besonders aufmerksam, vielleicht sogar etwas andächtig aus. Das hat aber vor allem was mit dem Inhalt zu tun.

Ein Dorf am Rand der Welt

Alles beginnt mit dem vorläufigen Ende der Geschichte. Finn Schliemann sitzt gemeinsam mit einem befreundeten Paar auf dem Dach eines Hauses und blickt auf das trübe, brackige Wasser einer Flut, die sein, an der Nordsee gelegenes Heimatdorf Thule, überschwemmt hat. Vorbeitreibende Leichen, glühende Hitze, Insektenschwärme und zur Neige gehende Vorräte bestimmen die katastrophische (Sur-)Realität.

"Bis zuletzt blieb bei allen ein Gefühl, das sei alles nur ein riesiger Witz. Ein grotesk aufgepumpter Aprilscherz."

Die Katastrophe, ein beliebtes Sujet deutschsprachiger Literatur der letzten Jahre, ist hier aber nur Ausgangspunkt, für eine Rückwärtsbewegung, eine Schleife: Als Finn ein Fernglas aus seiner Jugendzeit im Wasser entdeckt, setzt das in ihm einen Prozess der Erinnerung in Gang. Die zweite große Handlungsebene tut sich auf. Finns Jugend Anfang der 90er-Jahre, die er in einer Clique von versehrten Außenseitern, jeder mit seinen eigenen (Anti-)Heldenkräften ausgestattet, verbringt. Darunter finden sich der hyperaktive, zwangsgestörte Tille, der von seinem Alkoholikervater geschlagen wird, das dickliche Migrantenkind Diego, das mit seinem arbeitslosen Vater bei seiner Großmutter lebt, der robuste Dogge, der aus einer moralischen Verpflichtung Diegos gegenüber, dem er einen Zeh zertrümmert hat, bei der Gruppe bleibt, und schließlich Finn: ein unscheinbarer, stoischer Junge, dessen Vater Selbstmord begangen hat, und der sich mit seiner überforderten Mutter um seinen schwer autistischen Bruder Reini kümmert. Gemeinsam schnüffeln sie die Dämpfe von Plastiklagerfeuer, spielen Verstecken, schlagen irgendwie ihre Zeit tot.

Buchcover, Blaue Buchstaben auf weiß

Rowhohlt Verlag

"Der Fuchs" von Nis-Momme Stockmann ist im Rowohlt Verlag erschienen.

"Das hier, der alte Bunker und die Bushaltestelle im stillgelegten Norden des Dorfes, sind die einzigen Zufluchtsorte, die es für uns gibt. Die Rebellionsversuche der Jugend sind zwar hier auch radikal. Aber irgendwie verpufft alles. Zwischen den tiefhängenden Wolken und dem flachen Land reicht ein Möwenschrei, um jede Grenzauslotung kleinzumachen."

Follow the White Rabbit

Stockmanns "Der Fuchs" beginnt, wie eine klassische Coming-Of-Age-Geschichte, dreht dann aber schlagartig ab in einen vielschichtigen Genre-Mix, der sich eindeutigen Zuordnungen entzieht. Als die Gruppe beim Spielen einen abgetrennten Arm mit einem rätselhaften Symbol darauf findet, und ein junges Mädchen namens Katja auf der Bildfläche erscheint, ändert sich für Finn alles. Die charismatische Katja, die vorgibt, hellsehen zu können, nimmt den Protagonisten mit in den Kaninchenbau: Sie weiht den Jungen in eine Verschwörung kosmologischen Ausmaßes ein, in der sie beide wichtige Akteure im Kampf der Götter Tiamat, Abzu und Marduk um die Beschaffenheit der Wirklichkeit seien.
Nur Katja und Finn und wenige Verbündete würden im endzeitlichen Kampf, der ausgerechnet in ihrem Heimatdorf stattfände, den entscheidenden Ausschlag geben. Finn, der in Katja verliebt ist, folgt diesem Spiel, unsicher und unentschieden, ob er ihr glauben soll. Die triste Wirklichkeit des Dorfes wird für Finn durch Katja mit Sinn erfüllt, als er durch sie die vermeintliche Realität hinter der Realität entdeckt und die verschiedensten Ereignisse, wie Todesfälle in das Big Picture Katjas eingefügt. Der Leser folgt dem Abenteuer um die große Verschwörung, die der Autor langsam ausbreitet.

Der Streit um die Wirklichkeit

Langsam entwirrt Stockmann eine verworrene Geschichte, die mit der Schöpfung des Universums beginnt, mit dem Streit der Götter um die Beschaffenheit der Wirklichkeit ihren Lauf nimmt, schließlich in Thule des 18. Jhdt. und bis zur Gegenwart spielt. Auf allen Ebenen kommt ein Konflikt zwischen dem Wirklichkeitskonzept des naturwissenschaftlich geprägten, modernen Nihilismus ("die Welt ist im Gesamten sinnlos") und seiner philosophischen Gegenbewegung zum Ausdruck. Das Böse, die (mathematische) Ordnung verkörpert durch den Gott Marduk, versucht das imperfekte, sich nicht einzuordnende, chaotische Universum der Schöpferin Tiamat zu ratifizieren.

"Es ist der alte Krieg zwischen schöpferischer Energie und der Verschubladung der Welt."

Essayistisch, philosophisch, grausam und komisch

Obwohl Stockmann über eine sehr leichte, wendige Sprache verfügt, ist "Der Fuchs" alles andere als leichte Kost (im besten Sinne!). In seinem Debüt machen sich die Protagonisten beißend-kritische Gedanken um große lebens-philosophische, metaphysische und gesellschaftliche Themen wie Determinismus, das Verhältnis zw. Sprache und Welt, der Liebe, dem Konstruktivismus, Pop usw. Meist werden diese Themen in seitenlangen essayistischen Monologen, die sich irgendwann von ihren Protagonisten ablösen, verhandelt - nicht ohne Witz und Spitzen allerdings.

"Nein: Langsam sehe ich das gar nicht mehr so. Ich glaube weder an eine unumstößliche Ordnung, die sich mittels der Physik als Grammatik unserer Zeit beschreiben lässt, zumal ihre Berechnungsgrundlage nur unendlich grobe Annährungen hervorbringt, was diese These ziemlich steil aussehen lässt. Aber da drücken wir mal beide Augen zu. Was soll man auch tun?"

Dazwischen erzählt er meisterhaft, mal grausam, mal komisch von den Schicksalen seiner Figuren.
Auch in der Beziehung zwischen Katja und Finn gibt es diesen Konflikt, als der Junge bis zuletzt an der "Hellsicht" seiner Freundin zweifelt, ihre kämpferische und gesellschaftskritische Leidenschaft als Verrücktheit abtut, einfach ein "normaler Junge" sein will.

"Traust du dir und mir, diesem Ort und dieser Zeit nicht zu, die größte und bedeutungsvollste von allen zu sein?"

Als sich Finn als Erwachsener am Dach vor seiner überfluteten Heimat sitzend, an seine Jugend mit Katja, die große Verschwörung erinnert, muss er sich für eine dieser Realitäten entscheiden.