Erstellt am: 14. 3. 2016 - 12:13 Uhr
Alleingelassen - aufgemuckt
Ich habe oft an Kid denken müssen in den letzten Monaten. Jens-Peter Salzmann, genannt Kid, ein Freund in Weimar, Thüringen, früher DDR. Damals, als wir uns kennenlernten, war die DDR in ihren letzten Jahren, man merkte allerdings noch nichts davon. Eine Horde Punks aus München besuchte ihre Punkerfreunde in Weimar. Wir hatten eine Menge Spaß und immer viel zu wenig West-Bier dabei, aber wenn's sein muss, dann trinkt man eben auch das gallige DDR-Ehringsdorfer. Wir mussten, das war für die Bundis und den Ösi neu, aber für die Weimarer Alltag, immer auf der Hut sein vor der Volkspolizei und den Nazi-Skins, die schon damals nicht zu übersehen waren.
APA/AFP/JOHN MACDOUGALL
Ein Kranz von den Falschen
Die Punks von Weimar waren keine blöden Suffköpfe, sondern intelligente, spaßbegabte kritische Geister, die aus dem permanenten Katz und Maus-Spiel mit den DDR-Obrigkeiten eine Menge Spaß ziehen konnten, obwohl es beileibe nicht immer ein Spaß war. Täd, der Sänger ihrer Bands Küchenspione und Mehrzweckorchester Fröhliche Note, fasste für seine Texte ein halbes Jahr Knast aus, und er war nicht der einzige. Kid war der Leader of the Pack, vor allem war er der intelligenteste, amüsanteste und aktivste der Gruppe.
Wahrscheinlich war auch die Idee auf seinem Mist gewachsen, am Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald, am Denkmal des dort ermordeten Kommunisten Ernst Thälmann, einen Kranz mit der Aufschrift Nie wieder Faschismus - die Punks von Weimar niederzulegen. "Sie haben uns nicht gelassen", erzählt Kid Salzmann gerne, mit gespielter Verwunderung und einem Schmunzeln um die Mundwinkel. Die Punks erschienen dem realsozialistischen Staat wohl vor allem deshalb so gefährlich - und weit suspekter als die Nazis - , weil sie ihn von einer linken Grundhaltung aus vorführten. "Wir sind ja auch Sozialisten", grinste Kid ein ums andere Mal, "aber wir meinen's ernst. Und wir wollen halt auch Spaß haben."
Nach der Wende kamen schnell die Gegenbesuche, irgendwann wurde der Kontakt dann eher sporadisch. Zum zwanzigsten Mauerfall-Jubiläum vor ein paar Jahren fuhr ich nach Weimar und führte mit Kid Salzmann, inzwischen vom Platinen-Löter zum Meister in japanischer Akupunktur umgeschult, ein Interview zum Thema. Es sollte eins der besten, interessantesten und berührendsten Interviews werden, die ich bis heute geführt habe.
Die Umstände haben sich gedreht
Nicht nur, weil Kid ein begnadeter Erzähler ist, er ist auch ein scharfer Analyst der Verhältnisse. An der Tatsache, dass er, der von der DDR-Staatspartei SED auf die schwarze Liste gesetzte Anarcho-Rebell, zwanzig Jahre später die aus der SED hervorgegangene Linke wählte, konnte er nichts seltsam finden. "Die Umstände haben sich eben geändert", meinte er trocken. Und er beschrieb diese Umstände gewohnt griffig: "Mir selbst geht es zigmal, hundertmal, tausendmal besser als zu DDR-Zeiten. Aber es gibt hunderttausende, Millionen Menschen, denen es schlechter geht. Die Leute werden mit ihrer Gesundheit alleine gelassen, die Leute werden mit ihrem Wunsch nach Arbeit alleine gelassen. Wenn du früher eine Bohrmaschine gebraucht hast, weil du einen Schuppen gebaut hast, bist du zum Nachbarn eine ausborgen gegangen und der ist noch mitgekommen und hat dir beim Bauen geholfen. Heute hörst du kauf Dir doch selber eine im Baumarkt."
Diese Sätze waren es, an die ich so oft denken musste, wenn in den letzten Monaten die Neid-Debatte um die aus Syrien Vertriebenen aufkeimte. Diese Sätze waren es, die mir in den Sinn kamen, als ich darüber nachdachte, was um alles in der Welt eigentlich vernunftbegabte Menschen dazu bringt, gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes auf die Straße zu gehen. Und diese Sätze sind es, die mir nicht aus dem Kopf gehen, wenn ich die zweistelligen AfD-Wahlergebnisse von gestern oder die aktuellen Umfragewerte der FPÖ sehe. Oder wenn ich den Diskursen zuhöre, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Ich bin weit davon entfernt, anzunehmen, dass ausschließlich Nazis und Rassisten rechtspopulistische Parteien wählen. Natürlich, ein gewisser rassistischer und autoritärer Bodensatz gehört dazu, aber es wäre wohl vermessen zu behaupten, dass sich mehr als eine kleine Minderheit an Menschen in Europa vollständig von den rassistisch und autoritär geprägten gesellschaftlichen Strukturen haben frei machen können. Aufrichtiger Antirassismus kann nur davon ausgehen, sich seiner eigenen Prägungen bewusst zu sein und sich davon zu lösen zu versuchen.
Der rassistische Bodensatz
Was also braucht es, um diesen latenten, virulenten Rassismus zu entfesseln? Woher kommt diese gehörige Portion Wut, dieser Hass auf Fremde und aufs politische Establishment, das die westliche Welt von Frankreich bis Polen und von Österreich bis in die USA durchzieht?
Ich denke, es liegt genau an dem, was Kid Salzmann beobachtet hat, zum Zwanzigjährigen des Mauerfalls: die Menschen fühlen sich alleingelassen. Denn der Mauerfall war ja nicht nur eine Zeitenwende für die EuropäerInnen östlich des Eisernen Vorhangs, sondern auch für die im Westen. Das Ende der Geschichte war einer der Slogans, mit dem recht unverblümt verkündet wurde, dass nun Schluss sein müsse mit dem ganzen sozialen und politischen Gedöns, die Ära des Turbokapitalismus wurde eingeläutet, die Fesseln wurden abgestreift, denn der Zusammenbruch des Ostblocks sei der endgültige Beweis, dass Sozialismus und mit ihm jeglicher Gedanke an Soziales unnützer Ballast sei.
No such thing
"There is no such thing as society", das Bonmot der Grande Dame des Neoliberalismus, Margaret Thatcher, wurde zum Schlachtruf der neuen Zeit, zu einem Schlachtruf, in den auch die Sozialdemokratie nach Blair und Schröder freudig einstimmte. "Reform" war der Kampfschrei und ist es bis heute, obwohl schon seit Jahren niemand mehr weiß, was, warum und wozu reformiert werden soll und was eigentlich das Ziel dabei ist. Egal. Wer nicht mitmacht, der ist ewiggestrig, politisch zurückgeblieben und ein Bremsklotz.
Vorbei die Zeiten, als man sich Gedanken darüber machte, das Leben der Menschen in seinem Land (oder in Europa oder auf der ganzen Welt, je nach politischem Standpunkt) verbessern zu wollen. Heute will man nur noch die Bedingungen für die Wirtschaft verbessern Handelshemmnisse abbauen und Standortfaktoren optimieren. Dass bei jeder Pensionsreform, bei jeder Steuerreform, bei jeder Gesundheitsreform und bei jeder Arbeitsmarktreform am Ende weniger Geld und soziale Stabilität für einen großen Teil der Bevölkerung herauskommt, das hat das politische und das journalistische Establishment über Jahre hinweg maximal mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Die soziale Frage war eben nicht mehr sonderlich hip, wer sie stellte, war Ideologe, Realitätsverweigerer, übriggebliebener Altsozialist, Gutmensch oder Sozialromantiker - und wer wollte schon übriggeblieben sein?
Gnadenlosigkeit als politisches Geschäftsmodell
Wer die Alternativlosigkeit, die eine Gnadenlosigkeit ist, nicht im eigenen Geldbeutel merkte, der merkte sie am gestiegenen Konkurrenzdruck. Mehr Stress am Arbeitsplatz, das Damoklesschwert von Einsparungen und Umstrukturierungen hängt seit Jahren permanent über den allermeisten von uns. Und es sind nicht nur die Taten, die die Menschen aus ihrer sozialen Sicherheit reißen, es sind vor allem auch die Worte, die permanente Drohung mit der Unausweichlichkeit des immer weiter fortschreitenden Sozialabbaus, die uns die Frage Wann trifft es mich? in die Hinterköpfe einbrennt.
Es ist noch gar nicht so lange her, da inszenierte das politische Establishment Europas in einem öffentlichen Schauprozess den Höhepunkt dieser sozialen Eiszeit am Beispiel Griechenlands. Jeder konnte sehen, dass in dem Land, das Europa seinen Namen gab, in der Wiege der Demokratie - auf die man, wenn es erforderlich war, aus dem Stegreif Lobeshymnen singen konnte - die Gesellschaft mutwillig zugrunde gerichtet, Millionen Menschen in Armut gestürzt, das Gesundheits- und Pensionssystem ruiniert und der Lebensstandard fast aller Menschen massiv verschlechtert wurde. Weil diese Menschen und ihre Leben wertlos waren im Vergleich zu den Wirtschaftsdaten, im Vergleich zu Eigentum und Profiten von Banken und Konzernen, zu dem, was als notwendig bezeichnet wurde. Das Zeitalter der Alternativlosigkeit hatte sein Hochfest gefeiert.
Und auf einmal kamen die Flüchtlinge. Die Menschen, deren Not jeder, sogar das politische Establishment, zur Kenntnis nehmen musste. Sie starben nicht lautlos und unmerklich, wie die tausenden Säuglinge oder Pensionisten, denen das im Namen der wirtschaftlichen Notwendigkeiten zugrunde gerichtete griechische Gesundheitssystem nicht mehr helfen konnte. Nicht lautlos wie die tausenden verarmten Griechen, die Selbstmord begingen, weil sie keinen Ausweg aus der im Namen des Eigentums verordneten Armut sahen. Die Flüchtlinge flohen vor einem mörderischen Krieg, dessen Bilder täglich auf unsere Screens getragen wurde, und sie starben zu hunderten und zu tausenden auf dem Weg zu uns.
Die Bilder der Toten
Das Elend, die Not wurde sichtbar, und die, die es mitbrachten, bekamen das Mitgefühl nicht nur der Gutmenschen, sondern auch das der Politik, denn wäre die mit ähnlicher Gnadenlosigkeit vorgegangen wie im Fall Griechenlands, die Fassade der Europäischen Werte, die man sich als ideologisches Backup bewahrt hatte, wäre kaum aufrechter zu erhalten gewesen.
"Und was ist mit unseren Armen und Obdachlosen?" riefen die, die sich um die Armen und Obdachlosen am allerwenigsten scherten - und die Empörung war groß. Geht es denn nicht selbst den Ärmsten in unserer Gesellschaft noch hundertmal besser als einem Menschen, der im syrischen Bombenterror alles verloren hat, und auf der Flucht vielleicht noch einen Bruder, einen Partner oder ein Kind dazu? Aber es geht den Rechten natürlich auch heute nicht um die Armen und Obdachlosen, sondern um das uns, nicht um das uns als Gemeinschaft, sondern um das uns als Gegensatz zu denen. Die Menschen, die sich von diesem uns angespornt fühlen, wie blind ausgerechnet die Parteien der noch größeren Gnadenlosigkeit zu wählen, scheren sich nicht um harte Fakten und nackte Zahlen, denn es geht nicht um harte Fakten und nackte Zahlen.
Nein, man beneidet Flüchtlinge nicht um das bisschen Materielle, das sie bekommen, und die erfundenen Zahlen und die Gratis-Smartphones sind eine Metapher. Es geht um Aufmerksamkeit, um Zuwendung, darum, dass der Staat, die Gesellschaft, der öffentliche Diskurs, das politische und gesellschaftliche Establishment sich jahrzehntelang um das Leben der Kapitalismusverlierer nicht geschert haben, und es zum großen Teil auch heute noch nicht tun. Der Satz "was wollt ihr, ihr habt es doch immer noch besser als die Flüchtlinge" ist Hohn in den Ohren der Menschen, deren Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand und sozialer Sicherheit mit jeder Reform ein Stück mehr zerronnen ist. All das, die Aufmerksamkeit, die Zuwendung, den öffentlichen Diskurs, das Kümmern und das "wir schaffen das", das ihnen in den Jahrzehnten seit der Ausrufung von Turbokapitalismus und Eigenverantwortung verweigert wurde, das bekommen die Flüchtlinge.
Opfer bringen für den Profit
Seit Jahrzehnten lautet die Botschaft des Establishments "Wir alle müssen Opfer bringen" - und jeder weiß, dass mit "wir alle" die, die es sagen, nicht mitgemeint sind. Muss man sich angesichts dieser Gnadenlosigkeit wirklich wundern über die Schießbefehl-Forderungen von rechts außen? Ja, die Gnadenlosigkeit der politischen Rechten ist noch viel größer, denn sie forcieren in ihrer Bigotterie den Sozialabbau überall dort, wo sie regieren, aber dieses Paradox lösen sie mit einer Lüge auf, die ihnen viele gerne glauben, weil es eine letzte Hoffnung ist für ihre Existenzangst: Wenn du uns wählst, dann trifft es nicht "uns alle", es trifft nur die anderen.
Natürlich geht es nicht allen Rechtswählern materiell schlechter als früher, und natürlich ist das soziale Netz noch nicht völlig zerschnitten, in Teilbereichen funktioniert es besser als je zuvor. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er braucht auch das Gefühl, in der Gesellschaft etwas zu zählen und der Allgemeinheit etwas Wert zu sein. Wenn sich dieser Wert ausschließlich am erwirtschafteten Profit bemisst, wenn das eigene Leben keinen Wert mehr hat, dann fühlt man sich, wie Kid Salzmann es beschrieben hat, allein gelassen. Dann findet man selbst in der Rückschau auf einen Unrechtsstaat wie der DDR eine Art von Menschlichkeit, die man heute vermisst.
Wen wundert es also, dass das zum Kollateralschaden des Turbokapitalismus degradierte Volk dann die wählt, die der eigenen Stimme Aufmerksamkeit verschaffen? Nicht die zahnlosen Linken, die man mit Schulterzucken und Ignoranz klein halten kann. Sondern die, vor denen die Etablierten zittern? Nicht trotz der gut gemeinten Appelle wählt man Trump, Le Pen und AfD, nicht obwohl sie von allen Umstehenden für verrückt oder zumindest für irrational erklärt und lächerlich gemacht werden, sondern gerade deswegen.
Wasser auf die Mühlen der Rechten
Und in dieser Konstellation ist fast jede Reaktion des Establishments, die wir in den letzten Jahrzehnten hierzulande erlebt haben - und die uns die Deutschen, lernresistent, seit Monaten nachahmen - nur neues Wasser auf die Mühlen der Rechten: denn stellt man sich den Wählern entgegen und erklärt ihnen ihre Irrtümer von oben herab, dann vertieft man die Gräben; verschärft man in vorauseilendem Gehorsam das Asylrecht, bestätigt man deren Slogans und befeuert ihre Kampagnen erst recht. Nimmt man die rechten Parolen zum Maßstab der Politik, übersieht man die eigentlichen Bedürfnisse, die sich dahinter verstecken, erst recht wieder.
Will man den Rechten das Wasser abgraben und die Spaltung der Gesellschaft überwinden, dann muss man aufhören, die sozialen Verlierer, die Unterschicht, für ihre Rechtschreibfehler und ihre mangelnde Bildung zu verlachen und muss aufhören, aus der privilegierten bildungsbürgerlichen Position die immer noch wachsende soziale Unsicherheit mit Achselzucken und neuen Selbstoptimierungs-Anstrengungen zur Kenntnis zu nehmen.
Wir müssen wieder über die soziale Frage sprechen und über soziale Sicherheit, wir müssen darüber reden, wie man Steuerflucht bekämpft und Vermögen gerecht verteilt, anstatt darüber, wessen Pensionen man kürzt und wo der Sparstift noch zu nachsichtig war. Wir müssen die Kälte vertreiben, und vor allem denen wieder zuhören, mit ihnen reden statt über sie – und wir müssen die eigentlichen Bedürfnisse, die sich hinter den rechten Slogans verstecken, zur politischen Agenda machen. Wir müssen uns wieder um das gute Leben kümmern. Nicht nur für uns Bobos, sondern für alle.