Erstellt am: 10. 3. 2016 - 16:03 Uhr
"Sie drohten, unser Boot zu versenken"
von Salinia Stroux
"Was passiert jetzt? Wird der Balkan-Korridor ganz geschlossen? Wieso bauen sie Stacheldrahtzäune und schicken Kriegsschiffe, um uns zu stoppen?" Kobra, eine robuste Frau Mitte fünfzig ist aus Shamtal geflohen, einem kleinen Ort in Afghanistan, der von den Daesh und den Taliban heimgesucht wird. Ihren Mann hat sie vor Jahren wegen Krebs verloren, sie hat zwei minderjährige Töchter und zwei verschwundene Söhne. Jetzt sitzt sie mit ihren zwei Töchtern in einem kleinen Hotel in Izmir und weint leise, als sie über ihr Schicksal nachdenkt.
Kobra ist eine von Hunderten Flüchtlingen, die gerade in Izmir ausharren, um nach Griechenland überzusetzen. Die meisten von ihnen sind Syrer. Zwar ist es im Flüchtlingsviertel Basmane relativ ruhig im Vergleich zu vor einigen Monaten. Doch der Flüchtlingsstrom hört nie ganz auf. Etwa drei Millionen Flüchtlinge befinden sich momentan in der Türkei. Wie viele nach Europa weiterwollen, ist unklar.

salinia stroux
Zwanzig Tage ist sie schon hier, länger als alle anderen im Hotel. Zwei Mal hat Kobra schon probiert, nach Griechenland zu kommen. Beide Male erfolglos: "Wir waren schon in griechischen Gewässern, als die Türken sich uns in den Weg stellten. Sie drohten, auf unser Boot zu schießen und es zu versenken. Frauen und Kinder weinten. Wir sagten ihnen, sie dürfen uns nicht aufhalten, wir sind in griechischen Gewässern. Doch die Türken waren wütend. Sie rissen den Benzinschlauch aus dem Motor und hängten unser Schlauchboot an ihr Schnellboot an. Dann brachten sie uns zurück in türkische Gewässer."
Immer wieder klagten Flüchtlinge im letzten Jahr über das Verhalten der türkischen Küstenwache. Es war die Rede von einer Jagd auf kleine Flüchtlingsboote, von Manövern, die hohe Wellen erzeugen. Man habe außerdem die Schlauchboote zerlöchert und seeuntauglich gemacht und einzelne Personen geschlagen und verletzt. Weiterhin tauchen Berichte über illegale Zurückweisungen durch die Griechen und über unangemessenen Gewalteinsatz auf, doch scheint die Ansage der griechischen Regierung, die illegalen Push-Backs zu beenden, zumindest in Teilen umgesetzt worden zu sein. Jetzt verrichten die Türken die "Drecksarbeit".

AFP / STR
Am 28. Dezember 2015 begann die Europäische Grenzschutzagentur Frontex auf Anfrage der griechischen Regierung den "Rapid Intervention"-Einsatz in der Ägäis. Zurzeit sind fünfzehn Streifenboote im Einsatz. Seit Neustem soll auch die NATO mit einer Flotte von vier Booten im Meer zwischen der Türkei und Griechenland zum Grenzschutz beitragen. Doch die Rahmenbedingungen sind noch ungeklärt. Fragwürdig ist vor allem, ob von der NATO auf See gerettete Flüchtlinge in die Türkei zurückgeführt werden dürfen.
Karl Kopp, Europareferent bei Pro Asyl, formulierte scharfe Kritik an den Plänen der EU, die Türkei zum sicheren Drittstaat zu erklären und Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken. Er sagt: "Die Entscheidung kommt der Beerdigung des Asylrechts gleich". Die geretteten Flüchtlinge hätten das formale Recht darauf, dass ihr Schutzbedürfnis in der EU in einem fairen Verfahren individuell geprüft wird.
Auch zeigt ein aktuelles Rechtsgutachten von PRO ASYL, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist. Seit Monaten prangern Amnesty International und Human Rights Watch die Inhaftierungen von syrischen Flüchtlingen in der Türkei und Abschiebungen von Schutzsuchenden zurück in das Kriegsgebiet durch türkische Behörden an. Erst kürzlich berichteten syrische Flüchtlinge, man habe an der syrisch-türkischen Grenze auf sie geschossen. Griechenland verkündete dennoch unter dem Druck der EU, die Türkei als sicheren Drittstaat anzuerkennen, um sich in der Flüchtlingskrise kooperativ zu zeigen.

AFP / ARIS MESSINIS
Von den Frontexbooten redet im Mikrokosmos Izmir aber gerade niemand, denn die meisten Flüchtlinge werden schon an der türkischen Küste festgenommen. In Kobras Hotel wohnen Dutzende andere Afghanen - fast alles Familien. Eine Mutter mit sechs kleinen Kindern hockt auf einer Matratze gegenüber. Sie wiegt ihr 6 Monate altes Baby im Arm. "Als uns die türkischen Gendarmen an der Küste erwischten, verbrannten sie unsere Rettungswesten. Jetzt haben wir keine." Auf dem Bett neben ihr sitzt eine Afghanin mit ausgestreckten Beinen. Darauf liegt ihre 10-jährige Tochter Mobina. Sie ist seit ihrer Geburt behindert und kann nicht laufen, sich nicht einmal aufrecht halten. "Wie soll ich ihr eine Rettungsweste umlegen?" Am Montag erst ertranken mehr als 25 Flüchtlinge in der Nähe von Didim an der türkischen Küste. Insgesamt sind dieses Jahr nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schon mindestens 321 Menschen in der Ägäis ertrunken. Die fünf Familien mit insgesamt dreizehn Kindern in diesem Zimmer haben alle davon gehört und sind in großer Sorge. Die Frauen schicken ihre Männer los, Kinderrettungswesten zu kaufen. Sie kommen mit einfachen aufblasbaren Schwimmwesten wieder.
In einem weiteren von Syrern bewohnten Hotel sind alle mit den Nerven am Ende. In einer Männergruppe wird angeregt diskutiert. Was vereinbaren die Türken gerade mit der EU bezüglich der Rücknahme Tausender Flüchtlinge aus Europa? Im Grunde sehen sie das Problem woanders. "Wir kommen schon irgendwie an, die Frage ist: Wie ist es jetzt in Deutschland? Lieber würde ich in der Türkei im Knast landen oder in Syrien sterben, als monatelang in unmenschlichen Aufnahmelagern festzuhängen, ohne jegliche Hoffnung, meine Familie nachzuholen", sagt Ali, Familienvater aus Homs, und schaut traurig auf ein Foto von seinen Kindern in seinem Portemonnaie. Er kann nachts vor Sorge nicht mehr schlafen, fügt er noch leise hinzu.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk reagierte besorgt auf den Vorschlag einer generellen Rücknahme Tausender Flüchtlinge ohne Einzelfallprüfung und kritisierte, dass das europäische Umsiedlungsprogramm mit bislang nur 20.000 unverbindlichen Plätzen innerhalb von zwei Jahren weit unter dem realen Bedarf geblieben ist.
Während die Flüchtlinge in Izmir in großer Sorge um die internationalen Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik auf ihre Überfahrt warten, wurden am Montag auf dem Krisengipfel in Brüssel erste Umrisse einer möglichen Einigung für die Rücknahme Tausender Flüchtlinge diskutiert. Es sollen demnach wohl all jene von der Türkei zurückgenommen werden, die auf den Inseln der Ägäis neu ankommen und die keines internationalen Schutzes bedürfen. Ankara forderte von der EU im Gegenzug für das Outsourcing der Flüchtlingsabwehr nicht nur drei Milliarden Euro mehr als bisher, sondern auch beschleunigte Verhandlungen über einen EU-Beitritt, so die Erklärung der EU-Staatschefs und Regierungen. Doch bei weitem nicht alle EU-Mitgliedstaaten reagieren euphorisch auf die türkischen Forderungen. Bis heute wollen viele sich nicht an einem türkisch-europäischen Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge beteiligen. Andere Stimmen kritisieren die Forderungen der Türkei, eines Landes, das weder Menschenrechte noch Religionsfreiheit respektiere, als Erpressung. Der Gipfel endete mit der Vertagung des Beschlusses auf den nächsten regulären EU-Gipfel am 17. und 18. März.
Die Verhandlungen um mögliche Rücknahmeverfahren setzten sich in einem bilateralen Treffen in Izmir fort, wo nur einen Tag nach dem Gipfeltreffen der griechische Premier Tsipras und Ministerpräsident Davutoğlu eine Intensivierung ihrer Zusammenarbeit beschlossen.
Kobra ahnt nur vage, was die drohenden Veränderungen für sie und ihre Familie bedeuten. In ihrer rechten Hand hält sie eine Gebetskette. Immer wieder fahren ihre Finger unruhig über die Gebetskugeln. Sie murmelt vor sich hin. Dann blickt sie auf ihre kranke Tochter, die unter einer Decke neben ihr schwitzt. "Wir hoffen, es bald nach Griechenland zu schaffen. Unser Geld ist jetzt aus. Bete für uns, dass wir lebendig ankommen".