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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

10. 3. 2016 - 11:01

Ansichtssachen

Braucht es stets ein Label wie "Spielfilm", damit das Publikum sich ins Kino wagt? Drei Filme der Diagonale, die auch ohne Label auskämen.

Diagonale - Festival des österreichischen Films, 8. bis 13. März 2016, Graz

FM4 berichtet während der Diagonale täglich on air und online.

Eine Homebase Spezial widmet sich der #Diagonale16 am 10. März.

Alles zur Diagonale auch auf orf.at/diagonale16.

Was war das, was man gerade eben gesehen hat? Der Abspann läuft noch und die Bilder hängen nach. "Jeder der fällt hat Flügel" läuft unter dem Label Spielfilm. Dabei ist dieser Film für sein Publikum ein herausragendes Experiment.

Geschrieben, gedreht und montiert vulgo geschnitten hat Peter Brunner dieses Stück Kino. Die Jugendliche Kati und ihre viel jüngere Schwester Pia verbringen Zeit bei ihrer Oma in einem Haus auf dem Land. Grün ist das Gras, es ist die wärmere Jahreszeit, aber Kati plagt Asthma und überhaupt legt sich ein Unwohlsein über den vertrauten Ort des Großelternhauses.

Nur wenige Worte werden gewechselt, stets ist man einander zugetan, jedoch ist der Grundzustand ein schmerzvoller. Woher kommt diese unerfreuliche Atmosphäre, woher der Schmerz? Nicht chronologisch erzählt, fügen sich Rückblenden an Tagebuchnotizen, traumloser Schlaf und stilles Weinen, Abschiednehmen der Großmutter. Robert Schumanns "Ich hab' im Traum geweinet" wird zitiert. Der Tod der Großmutter droht.

Eine Jugendliche betrachtet ihren Bauch und auf dem Bauchnabel trägt sie ein Schmuckstück wie eine Kette

Cataract Vision

Eine Lanze für das Experiment und für das Fantastische des Kinos wollen die neuen Intendanten der Diagonale brechen. Für das nur vermeintlich Unpolitische, für die Sinnlichkeit und die Lust, für das Artifizielle und die bewusste Koketterie mit Oberfläche, auch für Pop und für Schund - für die volle Bandbreite filmischer Ausdrucksformen, gegen Profitmaximierung und Angepasstheit, gaben Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber an.

"Jeder der fällt hat Flügel" ist ein Erleben, das sich durch die Bilder und die Atmosphäre ergibt. Oma und Kati nehmen einen Karpfen aus, ein Zeck will entfernt werden und Hände spielen mit Blutegeln. Die Welt wird komprimiert auf winzige Naturbeobachtungen. Auf eine stringente Handlung wird verzichtet. Die Innenwelten der drei Frauen scheinen sich ineinanderzuschieben, als handelte es sich doch nur um eine Person in unterschiedlichen Altersstadien. Die diffuse Angst der Frauen kulminiert schließlich im Bild eines Containers auf offenem Feld, in den Kati ihre kleine Schwester einschließt.

Peter Brunner studierte an der Filmakademie Wien bei Michael Haneke. "Jeder der fällt hat Flügel" ist kein Film, nach dem man jubilierend aus dem Kino geht. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung. Die Abwesenheit von Männern in "Jeder der fällt hat Flügel" fällt einem spät auf.

90 Minuten Anspannung

Wie lange die alleinerziehenden Mutter im Spielfilm-Debüt "Im Spinnwebhaus" von Mara Eibl-Eibesfeldts schon fort ist, ist nicht genau definiert. Auch hier sind die Themen Kindheit und die Angst vor dem Verlassenwerden. "Ich will sie nicht mehr, du kannst sie haben", erklärt eine Erwachsene am Limit ihrem Ex-Mann, ihre drei Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren hören jedes Wort. Der Vater weiß nichts anzufangen mit den Kindern. Als die Mama ihrem ältesten Kind erklärt, für ein paar Tage wegzufahren, um gegen ihre Dämonen zu kämpfen, sind die Geschwister auf sich allein gestellt.

Ein kleines Mädchen und zwei Buben balancieren auf einem Geländer. Filmstill aus "Spinnwebhaus"

Gero Kutzner

In Schwarz-Weiß und mit anhaltender Spannung entwickelt Mara Eibl-Eibesfeldt einen Kampf ums Überleben. Denn die Geschwister haben sich verschworen: Niemandem und schon gar nicht einander wollen sie eingestehen, dass ihre Mutter sie verlassen hat. Bei "Im Spinnwebhaus" spannt sich der Oberkörper bis zur Kopfhaut. Diese KinderschauspielerInnen sind fantastisch. Da können noch ein Dutzend Personen ihren Platz verlassen, wieder zurückkehren - keine Ablenkung möglich.

Noch einmal muss ich an Christine Nöstlinger denken. Die Autorin hat ihre eigene Ansicht, dass man Kinder nie belügen dürfe, überdacht. "Ich weiß, dass rationale Erklärungen zu früh verabreicht, Kinder der Wirklichkeit entfremden. Weil Wirklichkeit, wenn sie nicht durch Phantasievorstellungen gemildert wird, für kleine Kinder unerträglich ist. Ein Kind braucht sein magisches Denken, um seine Angst binden zu können und seine Hoffnung aufrechtzuerhalten", so Nöstlinger.
"Im Spinnwebhaus" macht einem den Zugang zu kindlichem Erleben auf.

Drei Kinder haben sich aus Decken und Möbeln eine Höhle in einer Wohnung gebaut, an der Decke hängen Spinnweben

Gero Kutzner

Das F-Thema, oh weh

Haben Frauen es heutzutage auch nicht leichter als vor Jahrzehnten? Das wollte die Moderatorin der Gesprächsrunde "Frauenkarrieren in der Männerdomäne Film" wissen. Nur Paul Poet antwortet: Subkulturen bräuchten auch Unterstützung. Da hat man schon genug gehört bei diesem Talk.

Schließlich sagt die Produzentin Gabriele Kranzelbinder, sie fände es wenig sinnvoll, das sogenannte Frauen-Thema mit Themen von Randgruppen zu vermischen. Hier war leider wenig Neues zu erfahren. Große Budgets gehen an Männer, weil für die großen Förderungen eine Produktionsfirma für die Einreichungen erforderlich ist. Es hat schon tatsächliche Diskussionen zum Thema auf vergangenen Diagonalen oder beim Crossing Europe in Linz gegeben.

Im KIZ RoyalKino ist indes die Freude bereits zu Filmbeginn von "Girls don't fly" groß, texten Freunde aus dem Saal. Georg Grigoriadis ist zurück für die Saalregie. Würde man in einem abstürzenden Flugzeug sitzen, Grigoriadis könnte einem das mit seiner Stimme komplett klar und verständlich machen, man würde nicken und die Information zur Kenntnis nehmen. Es gibt Menschen, die seine Stimme auf ihrer Mobilbox haben wollen.

Auch im Schubert Kino sind alle Plätze besetzt, bereits um elf Uhr vormittags zu "Those Shocking Shaking Days". Selma Doborac hat einen Fragenkatalog geschrieben, der mediale Berichterstattung und historische Erzählung zu Krieg - konkret anhand des Bosnienkiegs - hinterfragt. Ein Insert nach dem anderen fordert ein, Stellung zu beziehen, während Hausruinen auf grünen Wiesen als Standbilder zu sehen sind.

Kaputtes Gebäude auf einer Wiese

Selma Doborac

"Those Shocking Shaking Days", Selma Doborac

Auch dieser Film ist ein Experiment. Er ist ein Essay. Aber wer hätte einen solchen gelesen, würde er nur in Schriftform erscheinen. Zudem wird hier über die Macht von Bildern nachgedacht. Eine lohnenswerte Arbeit. Kino ist ein Ort, wo man mal stillsitzt und sich zu konzentrieren hat. Das birgt eine Strenge, die gut tut.

Fahrradfelgen im Diagonale-Design

Radio FM4

Rot-weiß-rot in Wiederholung an allen Ecken. Viel, sehr viel Branding bei der Diagonale 2016 in Graz

Abends wird in Graz eine Schnapsklappe eingelöst, die Bar8020 aufgesucht und im HDA weit nach Ende der Vorstellung von "Endzeit" getanzt.

Heute hat auf der Diagonale "Die Geträumten" von Ruth Beckermann Österreich-Premiere. Auch ein Film, der gut ohne das Label "Spielfilm" auskäme.