Erstellt am: 9. 3. 2016 - 15:25 Uhr
Trau keinem über 30
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.
"Die Leiden des jungen Todor"
Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es im FM4 Shop.
Gestern, am Weltfrauentag, bin ich 30 geworden. 30 ist eine ernsthafte Zahl. Für einige ist 30 der Beginn des "ersten reifen Alters". Mit 30 kann man sich als Senator in den USA bewerben. 30 sind auch die Songs im "White Album" von den Beatles.
30 ist auch dreimal 10. Wenn ich mir jetzt genau überlege, waren alle drei meiner 10-Jahres-Jubiläen mit gesellschaftlichem Wandel verbunden. Als ich 10 geworden bin, wurde mein Geburtsland Bulgarien von einer unglaublichen Finanzkrise erschüttert. Das Geld verlor nicht tage-, sondern stundenweise an Wert. Ich erinnere mich, wie meine Eltern Stapel von Banknoten sammelten, die fast gar nichts wert waren. Wir eilten zum Lebensmittelgeschäft, um die fast wertlosen Geldstapel so schnell wie möglich gegen Brot, Joghurt oder Kraut einzutauschen. Man wusste nicht, was das Brot kosten würde, wenn man aus dem Geschäft hinausging. Später las ich die Romane von Remarque und konnte genau verstehen, wie sich die Menschen in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gefühlt haben. Ich wusste, wie es war, eine Million und gleichzeitig nichts zu besitzen.
Jeena Paradies
Als ich 20 geworden bin, wurden die Verhandlungen zum Beitritt meines Heimatlandes zur EU abgeschlossen. All das war mit einer Massenhysterie verbunden: Ist die EU gut oder schlecht, fragten sich die Menschen. Alle hatten Angst, dass die EU den Bulgaren verbieten werde Kuttelsuppe zu essen und Alkohol zu brennen. Wäre das passiert, hätte das zu einer Katastrophe geführt. Denn das Schnapsbrennen ist für die Bulgaren nicht nur die Möglichkeit billigen Alkohol zu bekommen. Es ist ein existenzielles Kredo, ein Ritual, ein Sakrament. Die bösen Zungen damals meinten, dass es keine einzige Organisation gibt, der Bulgarien beigetreten ist, die nicht zerbrochen ist. Ich erinnere mich, wie ich 2006 nach Griechenland gefahren bin und stundenlang an der Grenze warten musste. Nur ein Jahr danach ging es wesentlich schneller. Da war man auch bereit, die Kuttelsuppe dafür zu opfern.
Zu meinem 30er kommen die Grenzkontrollen wieder. Ich sehe riesige Menschenmengen vor Stacheldrahtzäunen. Europa wird zu einer Festung und die EU wackelt. Ich glaube, ich bin schuld. Jedes Mal, wenn ich ein Jubiläum habe, passiert etwas Schlimmes. Ich fühle mich wie Josef K. aus Kafkas "Prozess", der an seinem 30. Geburtstag aufwacht und eines ungewissen Verbrechens beschuldigt wird.
Judas verkaufte Jesus für 30 Silberstücke. Ich bin schon 30. "Trau keinem über 30", liebe Hörerinnen und Hörer.