Erstellt am: 9. 3. 2016 - 12:58 Uhr
Keine Bomben auf Neuwaldegg
Wenn man mit dem 49er bis zur Endstation Neuwaldegg fährt und dann mit dem 43A noch zwei Stationen bis zur Geroldgasse und dann noch stadtauswärts geht, dann kommt linkerhand bald die Villa der Frau von Braun, wo der Großteil von Maikäfer, flieg! spielt. Denn die Frau von Braun, eine standfeste Nationalsozialistin, bietet einer ausgebombten Familie an, in ihrem Haus zu wohnen, solange sie auf ihrem Bauernhof in Tirol ist und auf den Endsieg wartet. Es ist Anfang 1945, an den Endsieg glaubt keiner mehr so richtig, aber Villen hüten ist besser, als in der Stadt auf den nächsten Fliegerangriff zu warten:
Die Sozialkritik in dem Absatz ist mir erst jetzt beim vierten oder fünften Mal Lesen aufgefallen.
"Warum schmeißen die Amerikaner keine Bomben auf Neuwaldegg?"
Meine Mutter sagte: "Weil das Bombenverschwendung wäre. Da könnten sie mit einer Bombe höchstens vier Leute umbringen!"
"Und wenn die Bomben in die Gärten fallen", erklärte mir meine Schwester, "dann geht höchstens ein Birnbaum kaputt. Dazu sind Bomben viel zu teuer, verstehst du?"
Ich verstand es und freute mich sehr, in einer Gegend zu sein, die für Bomben zu teuer war.
Beltz Verlag
Unter den AutorInnen, die ich gerne gelesen habe, sobald ich lesen konnte, hatte Christine Nöstlinger immer eine Sonderstellung. Keine Frage, mit der Unendlichen Geschichte und Ronja Räubertochter verbinde ich angenehmere Erinnerungen als mit Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse oder Rosa Riedl Schutzgespenst. Es sind die schwierigeren, manchmal unangenehmeren Bücher. Und Maikäfer, flieg! ist das vielleicht schwierigste, beruht es doch auf tatsächlich Erlebtem aus einem echten Krieg. Mit einem Papa, dem die Granatsplitter aus den Beinen eitern, mit schießwütigen russischen Soldaten und mit Toten.
Wir hatten die Hannitante nicht gesehen. Und wir sahen sie auch nie mehr. Sie lag oben, bei der Kalvarienberggasse, unter einem Schutthaufen. Ihr Mann grub sie aus. Hätte sie nicht das Klappstockerl unter dem einen Arm und die karierte Decke unter dem anderen Arm gehabt, hätte ihr Mann sie gar nicht erkannt, weil ihr Kopf fehlte.
Gulliver/Beltz Verlag
Grauslichkeiten aller Art sind Nöstlingers Spezialität. Ob es der gewaltsame Tod der schrulligen Tante, das genüssliche Essen von Nasenrammeln oder der lockere Umgang mit Schimmel auf Lebensmitteln ist, die nüchternen Beschreibungen von Ekligem oder scheinbar Ekligem haben in der Kinder- und Jugendliteratur keinen Platz. Nur bei der Nöstlinger darf man nicht heikel sein. Und was das Fürchten angeht, unterliegen ihre Heldinnen ganz eigenen Regeln. Gefahr ist relativ, dass sich die Eltern Sorgen machen, heißt erstmal nur, dass es witzig werden könnte:
Meine Mutter kam mir entgegen."Wo bleibst du denn?", brüllte sie. Sie packte mich an der Hand, lief mit mir zum Haus. Sie rief: "Die Russen kommen!"
"Ja", sagte ich, "mit Pferd und Wagen. Sie sind schon in die Straße eingebogen!"
"Wenn du noch einmal davonrennst, wenn gerade die Russen kommen", brüllte meine Mutter, "dann kannst du was erleben!"
Es sind die Persönlichkeiten, die Christine Nöstlingers Romane prägen. Die herrische, oft grantige Großmutter mit ihrer sorgenvollen Liebe; der verschmitzte Großvater, der ein bisschen Angst vor der Oma und immer ein Zuckerl in der Jackentasche hat; die Mutter, die anschafft und anpackt, der keine Mühe zu groß ist und bei der keine Widerworte nutzen; aber auch die schnöselige Nachbarin, der Blockwart, die Gemüsefrau...
Diese Figuren sind nicht erfunden, auch wenn sie uns mittlerweile fremd vorkommen. Sie basieren auf Persönlichkeiten, die den Zweiten Weltkrieg noch zumindest als Kinder erlebt haben, die bei Bombenangriffen im Luftschutzkeller saßen und mit der Angst vor den Russen etwas Konkretes verbinden, die alles verloren und es sich wieder aufgebaut haben. Ich kenne diese Oma, diesen Opa und diese Mama, vermutlich auch den Blockwart.
Und es ist erstaunlich, wie viele kleine Geschichten diese Generation erzählen kann, die so klingen, als kämen sie direkt aus Maikäfer flieg oder einem anderen in dieser Zeit angesiedelten Roman Nöstlingers. Mein Großvater etwa spricht manchmal von den letzten Wochen des Krieges, als er noch seinen Einberufungsbefehl bekommen und sich in dem schmalen Abstand zwischen seinem Eltern- und dem Nachbarhaus versteckt hat. Meine Urgroßmutter hat ihm während dieser Zeit das Essen durch das Klofenster hinaus gereicht. Das hat etwas vom Vater aus Maikäfer, flieg!, der sich seine Urlaubsscheine selbst ausstellt:
Ich saß ganz still. Ich versuchte, keine Angst zu haben. Aber ich war ja kein Trottel. Ich wusste genau: Ein Soldat, so krank und verwundet und zerschossen er auch ist, ist trotzdem noch immer ein Soldat. Der kann nicht tun, was er will. Der muss tun, was ihm befohlen wird. Ein Soldat, der statt im Zug nach Deutschland auf einer Parkbank in Neuwaldegg sitzt, ist ein Deserteur. Deserteure werden erschossen.
Ein Kind hat vieles nicht zu tun und vieles nicht zu wissen. Die Kinder bei Christine Nöstlinger tun was sie wollen, wissen meistens mehr als die Erwachsenen und immer mehr, als die Erwachsenen denken. Und sie sprechen das auch aus. Das macht ihre Bücher schwierig, manchmal regelrecht unangenehm. Aber halt auch so verdammt gut.
Verlosung!
Mit dem Film "Maikäfer flieg" von Mirjam Unger, wurde die Diagonale eröffnet
Maikäfer, flieg! ist als "Roman zum Film" (lol) in einer gebundenen Ausgabe im Beltz Verlag neu erschienen. An der Originalausgabe scheint sich nichts verändert zu haben, im Anhang sind aber einige Bilder und Infos zum Film. Wir verlosen drei Ausgaben davon unter denjenigen, die uns folgende Frage beantworten können: Wie heißt der russische Soldat, zu dem die Ich-Erzählerin eine besondere Freundschaft aufbaut?
Die richtige Antwort lautet "Cohn" - die GewinnerInnen wurden bereits per Email verständigt!