Erstellt am: 5. 3. 2016 - 09:45 Uhr
Sich verlieben hilft
Der Mittwoch ist ja auch in Berlin der Tag, an dem die Ausgehwoche wieder anfängt. Wenn man aber bis zum Wochenende durchhalten will und nicht mehr die Ausgehkondition einer Zwanzigjährigen hat, empfiehlt es sich, die Ausgehwoche langsam angehen zu lassen. Wir haben ja, nicht nur in Berlin, eine Alkoholkultur, und das Weggehen zum Beispiel zu einem Konzert, bei dem man alle möglichen Leute trifft, führt leicht zur Sauferei. Und die verträgt der Mensch ab 40 nicht mehr so gut, nicht mehrmals die Woche. Das heißt er verträgt sie schon, aber bei nur zwei, drei Gläschen ist der Tag danach im Eimer – und das sind die Vergnügungen des Abends nicht immer wert.
Da bietet es sich an, in der Wochenmitte gediegen auszugehen, ohne Exzessversuchung - warum nicht mal zu einer Lesung?
Susanne Schleyer/autorenarchiv.de
Genau letzten Mittwoch stellte David Wagner in der Kulturbrauerei, einem leider zu Tode renovierten, weiträumigen Areal einer alten Brauerei am Prenzlauer Berg, sein neues Buch "Sich verlieben hilft" vor. David Wagner ist ja nicht erst seit seit seinem Roman "Leben", für den er 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse bekam, ein bekannter deutscher Schriftsteller. Er hat schon alle möglichen Preise bekommen, ist ständig auf Lese- und Weltreise, und seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt.
"Sich verlieben" ist kein neuer Wagner-Roman, sondern eine Zusammenstellung von literarischen Essays. Bislang war David Wagner in seinen Essays ja durch Berlin spaziert gewandert und flaniert, hatte als Chronist des neuen und nicht mehr ganz neuen Berlins Straßenzüge und Flohmärkte rezensiert. Beim Berliner Verbrecher Verlag wurden daraus die Bücher "Welche Farbe hat Berlin" (2011) und "Mauer Park" (2013).
In "Sich verlieben hilft" streift er durch die Welt der Bücher und Bibliotheken. Er liest auf Elba, in Österreich und im Internet, findet Bücher auf der Straße und in seiner Küche. Er erzählt vom Lesen und vom Schreiben in London und Venedig, spaziert zu Neuerscheinungen und besichtigt Klassiker wie "Robinson Crusoe" oder "Der Graf von Monte Christo". Gleichzeitig liegt er mit dem Notebook im Bett und schaut bekannte amerikanische TV-Serien. Dann befindet er sich gemeinsam mit Mafiaboss Tony Soprano in New Jersey oder sitzt neben Donald Draper in einer New Yorker Werbeagentur.
Verbrecher Verlag
Die essayistische Form ist ja eine recht offene; ein je nach Autor mehr oder weniger humorvoll-gelehrtes Geplauder über Gott und die Welt und ihre Erscheinungen. Bei David Wagner scheint neben der präzisen Beobachtungsangabe und der bei aller Lockerheit doch akribischen Wortwahl, das Bewusstsein im Hintergrund durch, dass gelehrtes Geplauder auch immer ein bisschen bildungshuberisch und klugscheißerisch daher kommen kann. Und deshalb stellt er sich als Essayist hin und wieder selbstironische Fallstricke, mit deren Hilfe er den eigenen Hang zum Räsonieren wieder entlarvt.
So folgt auf eine feinsinnige, hehre Betrachtung eines Phänomens, oft eine weit profanere Erklärung im nachgeschobenen Nebensatz. Und dann macht es einfach Spaß, sich von dem gebildeten Autor zur eigenen, weiteren Lektüre anregen zu lassen.
Im Kapitel "Sich enteseln" geht es unter anderem um einen antiken Roman aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, dem "Goldenen Esel" des Apuleius von Madaura. David Wagner schreibt so schön über die Geschichte des in einen Esel verwandelten Erzählers Lucius, der immer wieder verprügelt, verkauft, geraubt und sogar von einer reichen Dame sexuell missbraucht wird, dass man am Liebsten gleich loslesen will.
Wagner klärt den Leser über das sehr schöne Wort "sich enteseln" auf – der zum Esel verzauberte Lucius strebt natürlich fortwährend seine Enteselung an.
"Sich enteseln" so verrät der Autor am Ende der Lesung, war auch der ursprüngliche Titel des Bandes gewesen, der sei aber bei einer Bestellung in der Buchhandlung so schwer auszusprechen.
So ist es nun "Sich verlieben hilft" geworden, eine recht irrige Annahme - denn sich verlieben ist nun mal das genaue Gegenteil von sich enteseln.