Erstellt am: 9. 3. 2016 - 11:24 Uhr
Für Sinn und Sinnlichkeit
"Herzlich willkommen!" Diese Begrüßung sei seit einigen Wochen nicht selbstverständlich, erklären die beiden Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber gestern Abend zur Eröffnung des Festivals des österreichischen Films.
Diagonale - Festival des österreichischen Films, 8. bis 13. März 2016, Graz
FM4 berichtet während der Diagonale täglich on air und online.
Eine Homebase Spezial widmet sich der #Diagonale16 am 10. März.
Alles zur Diagonale auch auf orf.at/diagonale16.
"Aus welchem Umfeld heraus machen wir dieses Festival? Was ist das für eine Gesellschaft, was sind wir für eine Gesellschaft, die auf eine ohnehin halbherzige Willkommenskultur mitsamt der Schwierigkeiten, Fallstricke und Herausforderungen, die diese mit sich bringt, mit verbalen - mittlerweile auch tatsächlichen - Brandsätzen antwortet?", bringt Sebastian Höglinger die gesellschaftspolitische Gegenwart in diesem Festrahmen vor. "Immer dort, wo sich Gesellschaft als Volk gebärt, ist zweifellos Skepsis angebracht", hält Peter Schernhuber in der bis auf den letzten Platz gefüllten Helmut-List-Halle fest.
Diagonale/Pelekanos
Unter den Anwesenden sind Erni Mangold, die mit dem Großen Schauspielpreis der Diagonale geehrt werden wird, und der Bundespräsident Heinz Fischer. Christoph Grissemann moderiert, kündigt "Fischer Heinz, die Nummer 1" an und geht vor dem Bundespräsidenten in die Knie. "Meine Damen und Herren, ich finde, er ist ein ziemlicher Lauser", kontert Fischer und zieht dann eine Parallele zwischen Christine Nöstlingers Kindheit und seiner.
Die Autorin Nöstlinger ist im Frühjahr 1945 acht Jahre alt und wohnt in Hernals, Heinz Fischer ist sieben und lebt in Hietzing. In "Maikäfer flieg", erstmals 1973 veröffentlicht, lässt Christine Nöstlinger die achtjährige Ich-Erzählerin die letzten Kriegstage mit den letzten Bombenangriffen auf Wien, das Schutzsuchen in Kellern, den Hunger und dann den Einmarsch und das Verweilen russischer SoldatInnen erleben. Die Erzählerin freundet sich mit dem russischen Koch an, der kurzsichtig und hässlich ist und von niemandem gemocht wird. Christine Nöstlinger schildert in dieser Erzählung eigene Kindheitserlebnisse. Mirjam Unger hat das Buch zum Film gemacht.
Oliver Oppitz
Der Eröffnungsfilm "Maikäfer flieg"
"Maikäfer flieg" läuft ab kommendem Wochenende in den österreichischen Kinos
Erst dröhnen zehn Minuten die Sirenen, dann zwitschern Vögel und Insekten brummen. Aus zerbombten Häusern hat sich eine Mutter (Ursula Strauss) mit ihren zwei minderjährigen Töchtern zur Villa einer Nationalsozialistin durchgeschlagen. Ihr Mann (Gerald Votava) und der Vater der Mädchen kehrt mit Granatensplittern im Bein aus Russland zurück. Als an diesem Zufluchtsort alsbald auch die Frau von Braun (Bettina Mittendorfer) aufkreuzt, kommt Dynamik in die Bude, noch bevor sich Russen im geräumigen Haus einquartieren. "Jetzt gebt's a Ruah'", erklärt der kriegsverwundete Vater, "wenn schon der 1. Mai ist und die Ivans feiern!".
Michael Fiedler über Christine Nöstlingers autobiografisches Buch "Maikäfer, flieg!"
Und "die Ivans" feiern oft. In den einzelnen kurzen Episoden in der Villa am Stadtrand Wiens zeigt sich ein Sittenbild einer Zweckgemeinschaft vom Schicksal und den Kriegswirren zusammengewürfelter Personen. Im Zentrum steht die achtjährige Christl (Zita Gaier). Dynamisch geschnitten (Niki Mossböck) und schön gefilmt (Eva Testor), gut gespielt, macht die Musik bis auf wenige Sequenzen nahezu permanent Stimmung (Eva Jantschitsch). Viel Swingmusik ist zu hören, einmal erklärt sich das mit dem Hören eines "Feindsenders". Wer in Wien hat in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges und des Ende des Nationalsozialismus tatsächlich Duke Ellington gehört?
Filmladen/KGP
"Maikäfer flieg" ist Mirjam Ungers erster Langspielfilm seit "Ternitz, Tennessee" im Jahr 2000 und wurde mit einem Budget von 3,4 Millionen Euro realisiert. Ein Budget, das die für Frauen bislang gläserne Decke durchbrochen hat, wie die Filmemacherin betont. Der Produzentin Gabriele Kranzelbinder widmet sich die Reihe "Zur Person".
Die Kinder raunzen vor Hunger und saufen Wasser. Die Not der Zivilbevölkerung und etwa die Freude über eine Waschmöglichkeit inszeniert Regisseurin Mirjam Unger und dass hier jede und jeder versucht, sich durchzuschlagen und zu überleben. Berührend ist Nöstlingers Romanvorlage, die Tragikomik kann sich in der filmischen Adaption nicht immer durchsetzen.
In dieser Diagonale-Woche wird das Publikum noch in weiteren Filmen mit kindlichem Erleben konfrontiert werden, allen voran in Mara Eibl-Eibesfeldts "Im Spinnwebhaus" sowie in "Hannas schlafende Hunde" von Regisseur Andreas Gruber, in dem eine jüdische Perspektive zum Tragen kommt. Auch letztgenannter Film basiert auf einem autobiografischen Buch.
Ein Plädoyer für Europa und für Lebensfreude
Die Diagonale wollen die neuen Intendanten auch als Aufruf für Europa verstanden wissen: "Für ein Europa, das mehr sein müsse als ein Sammelbegriff für Nationalstaaten, und nicht an seinen Außengrenzen endet - weder in die eine, noch in die andere Richtung", sagt Peter Schernhuber. Und Sebastian Höglinger lädt ein: "Lassen Sie uns gemeinsam am österreichischen Selbstverständnis zweifeln und ins Kino gehen. Essen, pubertär tanzen und feiern - von uns aus auch gerne rauchen und saufen - und uns immer wieder die Frage stellen, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt".
Im Foyer der Helmut-List-Halle feiert und singt Regisseurin Mirjam Unger mit Gerald Votava, Ursula Strauss sowie Krista Stadler und Eva Jantschitsch auf einer Bühne mit Ernst Molden. Rundum fröhliche Gesichter.
Radio FM4
Auf ins Kino==
Für alle, die nicht in Graz sein werden: TV-Erstausstrahlung für den Gewinner-Spielfilm der Diagonale 2013. "Im Glanz des Tages" von Tizza Covi und Rainer Frimmel ist am 9. März, 22.25 Uhr, auf 3sat zu sehen. In einer der Hauptrollen: Philipp Hochmair.
Erni Mangold ist an diesem Mittwochmorgen vielleicht gleich nochmal in ihren Preis geschlüpft: Die Künstlerin Anna Paul hat ihr einen Kimono überreicht, in den ein Text Peter Handkes eingearbeitet ist. "Im Waldviertel wird das ganz entzückend sein, wenn ich hinausgehe in den Garten, die Nachbarn werden etwas erschrecken".
Von Schrecken, die sich dem Verstand entziehen, handelt die Doku "Those Shocking Shaking Days" von Selma Doborac und verhandelt die Aufbereitung von Krieg, konkret des Bosnienkrieges. Das wird die nächste Premiere auf der diesjährigen Diagonale, gleich um elf Uhr vormittags. Auf ins Kino!
Verlosung!
Wir verlosen 2 x 2 Karten für "Maikäfer flieg" im Moviemento in Linz am Sonntag, 13.3., 18.00 Uhr unter jenen, die uns den Titel jener Doku nennen können, in der Mirjam Unger u.a. die Musikerin Eva Jantschitsch porträtiert. Die Antwort schickt ihr an game.fm4@orf.at