Erstellt am: 2. 3. 2016 - 11:49 Uhr
Sollen sie doch?
Ich weiß eh, ihr habt keine anderen Sorgen da drüben, deswegen muss ich sie ja auch mitten in eure selige Problemlosigkeit hineinwerfen, meine Schrullen aus der soziopathischen Brexit-Welt.
Nur bevor hier jetzt alle "Sollen sie doch gehen!" in ihre Bärte oder Kaffeetassen murmeln:
1) Ja, das denken sich eh alle, würde ich vielleicht auch, wenn ich's mir leisten könnte.
Allerdings ist das auch exakt die Pose, die die Brexit-Befürworter_innen einnehmen: Zu glauben, man kann die lästigen Anderen einfach weghaben.
Um mich über diese Gemüter noch aufzuregen, wohn ich echt schon zu lange hier. Einer von ihnen zu sein – auch wenn umgekehrt – reizt mich allerdings genauso wenig.
2) Man sollte nie die Fähigkeit dieser scheinbar so eigenbrötlerischen Insel unterschätzen, dem Kontinent ihr Wetter zu schicken. Schließlich hat hier einst auch die europäische Version des neoliberalen Projekts begonnen.
Und genauso ist der populistische Rest Europas nun vom britischen Beispiel eingeladen, den inneren Cameron, den es schließlich überall gibt, seine jeweilige Sonderwunschliste schreiben zu lassen, inklusive Bruch des Anti-Diskriminierungs-Prinzips und sonstiger lästiger Unannehmlichkeiten des Lebens unter – theoretisch - Gleichen.
In Österreich, scheint mir, ist das schon längst im Gange.

AFP / NIKLAS
Falls Cameron dagegen verliert, droht das Erstarken des inneren Boris Johnson, der mit sentimentalem Verweis auf das alte Empire zurück in die gute alte Zeit der nationalstaatlichen Seligkeit will, und dann, wie The Divine Comedy einmal sangen "the lights go out all over Europe."
Nein, es ist nicht wurscht, was hier passiert. Aber was mich bisher am meisten beschäftigt und frustriert hat, war eher die Sicht der Schlaueren in dieser Debatte, die dem Rest Europas immerhin mit einem gewissen Respekt begegnen, egal ob sie nun rein oder raus wollen.
Die Brexiters und die Remainians leiden nämlich gleichermaßen unter der optimistischen Fehlannahme, die Kontinentalen da drüben hätten ein Konzept. Es ist das Klischee der hochorganisierten, effizienten, dem Stereotyp nach irgendwie deutschen oder skandinavischen Rationalität, das hierzulande negativ wie positiv gegen das ebenso verblendete Selbstbild der liebenswert launischen britischen Exzentrik ins Spiel gebracht wird.
Die eigenartige Vorstellung, dass irgendwo im Innersten der EU ein paar technokratische Masterminds mit randlosen Brillen den Supertanker in Richtung Integration lenken, während rund um sie ein paar Clowns auf den Tischen tanzen.
Selbst die Separatist_innen argumentieren damit, dass sich die EU mit Großbritannien ganz schnell auf neue Handelsabkommen einigen würde, schließlich exportiere die EU ja viel mehr nach Britannien und hätte daher ein großes Interesse daran, weiter zollfrei mit den Briten zu handeln.
Jeden Tag mag ich mich am liebsten mit diesem Leuten hinsetzen und ihnen ganz geduldig und sanft das Prinzip einer Freihandelszone erklären, zumal es nicht ganz durchgedrungen sein mag.
Ein einzelner EU-Staat wie Deutschland exportiert sieben Prozent seiner Produkte nach Großbritannien und könnte Export-Tarife in diesem Segment natürlich wesentlich leichter wegstecken als die Briten, die – Handelsbilanzdefizit hin oder her – rund die Hälfte ihrer Exporte in die gesamte EU schicken.
Überhaupt keine Frage, wer da bei den Neuverhandlungen am längeren Ast säße, und eigentlich unvorstellbar, dass die Brexiters so ökonomisch analphabetisch sind, das nicht zu verstehen. Aber ich höre es hier jeden Tag, wieder und wieder: Sobald Großbritannien draußen ist, werden französische Bauern und deutsche Autohersteller ihre Regierungen um freien Zugang zu den britischen Konsument_innen beknien.
Einmal abgesehen von der atemberaubend kühnen Auslegung eines besorgniserregend hohen Handelsbilanzdefizits als Garant der Unabhängigkeit:
Dieser ineffiziente, undemokratische Verein namens EU, aus dem man unbedingt raus muss, um wettbewerbsfähig und von Brüsseler Bürokratie befreit endlich mal wieder so richtig auf angelsächsisch Wirtschaft zu treiben, wird also mit einem Mal superfix und flexibel, sobald man ausgetreten ist?
Die Downing Street zumindest sieht das nicht so und warnt vor zehn Jahren zäher Neuverhandlungen mit allen EU-Ländern.
Chris Grayling, der konservative Leader of the House, ein Brexiter, entgegnete dem vorgestern in einem Radio-Interview mit der Feststellung, es sei doch unvorstellbar, dass ein popeliger Trade Deal doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen könnte wie der Zweite Weltkrieg.
Genau, guter Vergleich. Ist ja auch quasi dasselbe.
Aber es bringt uns zum Punkt: Bis vor Kurzem glaubte ich noch naiv, die Briten wüssten einfach nicht, was sie mit ihrem Alleingang an Instabilität auslösen (siehe oben erwähnten Supertanker-Mythos).

Sunday Express
In Wahrheit gibt es da Leute (und ich übertreibe nicht), die sich in ihrer Nostalgie die klaren Verhältnisse eines Krieges zurückwünschen.
Sie sprechen von Souveränität und führen als Gegenargument zur europäischen Reisefreiheit besonders gern die indische Großmutter ins Treffen, die wegen der Migrationsquote keine Aufenthaltsbewilligung bekommt, während jede_r dahergelaufene Europäer_in ins Land kommen und sich an den vermeintlich reichen Früchten des britischen Sozialstaats laben kann.
Was tatsächlich hinter diesem Unrechtsgefühl liegt, ist allerdings bloß die Sehnsucht nach der Kolonial-Ära, als die Ausländer noch aus dem Commonwealth kamen und keine Frage darüber bestand, wer in diesem Verhältnis "top dog" war. Für Leute, die in solch imperialen Mustern denken, gehört das Zündeln in Richtung Kontinent mit zum Programm.
Wenn sie vom Scheitern Schengens oder dem Tränengaseinsatz an der mazedonischen Grenze hören, entfährt ihnen frei nach Qualtinger ein herzhaftes "Koal, du bist's ned."
Und wenn die französische Polizei den sogenannten "Dschungel" demontiert, gratuliert man sich bloß umso mehr dafür, nicht mit zum "naiven" Schengen-Abkommen zu gehören, das diese Menschen so weit Richtung Westen dringen hat lassen.
Ein Eskalieren der Krise der europäischen Flüchtlingspolitik wird, so weit sind sich alle einig, nur die Brexit-Freaktion stärken. Weil die Vorstellung, dass Großbritannien selbst Teil einer europäischen Lösung sein könnte, auf beiden Seiten der Brexit-Debatte nicht einmal ansatzweise zur Sprache kommt.
Im Gegenteil, Foreign Secretary Philip Hammond, ein Pro-EU-Loyalist in Camerons Regierungsmannschaft, hat uns erst heute im Radio wieder erklärt, es sei "the beauty" des britischen Status innerhalb der EU, dass man sich von solchen Problemen absentieren könne. "The best of both worlds", nennt er das. Und ich Depp dachte immer, es gibt nur die eine Welt.
Ja selbst im Editorial des pro-europäischen Guardian lese ich heute nach Schilderungen des Elends in Griechenland wieder einmal anklagende Appelle an das Gewissen Europas, so als hätte Britannien rein gar nichts damit zu tun.
Es ist übrigens gerade erst elf Tage her, dass ich im Morgengrauen in Calais an den mehrfachen, haushohen Zäunen vorbei in Richtung Fähre fuhr. Durch die Gitter sah man die Zelte, die in der Zwischenzeit wohl zum Großteil abgetragen wurden.
Alle paar hundert Meter stand ein Einsatzwagen auf der Autobahn, um jene aufzusammeln, die es allem Stracheldraht zum Trotz über die Barrieren geschafft haben. Die Ironie ist, dass die Briten, auch wenn sie selbst die Zäune finanzieren, diesen ganze Landstriche vereinnahmenden Grenzschutz auf französischem Boden einem Entgegenkommen Frankreichs zu verdanken haben.
Wenn sie einmal aus der EU draußen sind, könnte es gut sein, dass die Grenzkontrollen wieder – so wie früher einmal – drüben in Dover stattfinden.
Aber bis es so weit kommt, haben wir alle längst ganz andere Sorgen.

AFP / DENIS CHARLET