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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

29. 2. 2016 - 13:42

Fremde sind wir uns selbst

Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud schreibt eine Gegendarstellung zu Albert Camus "Der Fremde". Behauptet er jedenfalls. Dabei rechnet er vor allem mit Algerien ab.

Gewissen Klassikern der Weltliteratur kann man sich kaum entziehen, weil sie so unter die Haut gehen. Albert Camus' "Der Fremde" aus dem Jahr 1942 ist einer davon. Die Geschichte eines in Algerien lebenden Franzosen, Meursault, der zur Mittagszeit an einem heißen Sommertag am Strand einen Araber erschießt und schließlich zum Tode verurteilt wird – allerdings nicht wegen des Mordes, sondern weil er beim Tod seiner Mutter zu wenig Anteilnahme gezeigt hat –, ist mitreißend und von brillanter, klarer Sprache. Unwidersprochen ist der Roman allerdings nicht.

Albert Camus mit einer Zeitung

AFP / picturedesk.com

Albert Camus 1959

Denn "Weltliteratur" ist dieses Buch hauptsächlich aus einer westlichen, "eurozentrischen" Perspektive. Aus Camus Geburtsland Algerien, damals französisches Departement, kam schon bald nach Erscheinen des Romans Kritik, dass Camus die koloniale Realität im Land ausblende, die in den fünfziger und sechziger Jahren anhielt.

Über siebzig Jahre nach Camus‘ "Der Fremde" hat mit dem algerischen Schriftsteller Kamel Daoud und seinem Roman "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" wieder ein Autor die Geschichte vom Franzosen und dem Araber aufgenommen, die aber nur bedingt einhält, was der Titel verspricht.

Vierzehn Uhr oder Freitag

Protagonist ins Daouds Roman ist ein alter Algerier namens Haroun, der seine Tage in den wenigen Bars der algerischen Stadt Oran verbringt, die überhaupt noch Alkohol ausschenken und geöffnet haben. Dort wird er von einem Literaturwissenschaftler aufgespürt, um ihm die Geschichte zu erzählen, die sein Leben bestimmt hat: Der Mord an seinem Bruder.

Sein Bruder, so Haroun, sei nämlich jener Araber gewesen, der die Figur des Meursault so berühmt gemacht habe, jener, den Meursault am Strand hingerichtet habe. Und dieser Mord aus den 1940ern macht Haroun heute immer noch zornig, und es ist nicht einmal die Tat selbst, die ihn auch nach über einem halben Jahrhundert noch so empört, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Erzähler - Daoud schreibt im Roman immer nur von Meursault, nie von Camus als Urheber der Geschichte - dem Mordopfer nicht einmal einen Namen gegeben habe.

"Er hätte ihn 'Vierzehn Uhr' nennen können, so wie jemand anders seinen Neger 'Freitag' genannt hat. Eine Tageszeit statt eines Wochentags", beginnt Haroun zu erklären, doch nicht einmal das habe Meursault geschafft, sondern ihn als namenlosen Araber aus der Geschichte getilgt und ihn damit gewissermaßen ein zweites Mal getötet. "Guter Gott, wie kann man jemanden nur umbringen und dann auch noch seines Todes berauben? [...] Das macht mich fertig. Sogar nach der Unabhängigkeit hat niemand auch nur versucht, den Namen des Opfers herauszubekommen."

Moussa hat das Opfer geheißen und Haroun wünscht sich, dass jemand die Geschichte von Meursault und Moussa noch einmal neu erzählen würde, doch diesmal – wie das Arabische von rechts nach links – aus der Perspektive seines Bruders.

Keine Gegendarstellung

Buchcover: Kamel Daoud - "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung"; ein Mann geht am Strand entlang

Kiepenheuer & Witsch

"Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" von Kamel Daoud ist von Claus Josten übersetzt worden und bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Bis dahin scheinen Harouns Monologe genau auf solch eine klassisch-postkolonialistische Erzählung hinauszulaufen. Statt dieser Gegendarstellung, die uns der Titel des Romans verspricht, die Haroun aber nicht halten kann, weil er nicht genug über diesen Tag und seinen Bruder weiß, folgt eine Abrechnung mit dem Algerien nach der Unabhängigkeit: Mit dem Opportunismus und dem Identitätsverlust seiner EinwohnerInnen, dem um sich greifenden religiösen Fanatismus und der Tatsache, dass das Land herabgewirtschaftet ist.

Auf einmal erzählt Haroun von seinem Traum, ein Buch zu schreiben, das keine Gegendarstellung mehr sein sollte, sondern "eine große Abhandlung zur Verdauung", denn das ganze Land habe nach der Unabhängigkeit zu Tisch gesessen und verspeist, was es vorgefunden habe, von Gipsverzierungen und Hochglanz über die Tiere und Wälder des Landes bis zu Betonstückchen aus dem Gehsteig heraus. Die Wüste wäre nur wegen ihres schalen Geschmackes unversehrt geblieben.

Der Fremde ist auch in Haroun

Hat Haroun am Anfang des Romans nichts als Kritik für Merusault übrig, wird er ihm im Laufe seiner Monologe immer ähnlicher, abgestumpfter und gleichgültiger, bis hin zu einer schrecklichen und absurden Tat, die die beiden Figuren für immer verbindet. Und nicht nur in ihrem Handeln, auch in ihrem Stil gleichen sich die beide an, sodass Harouns Monologe am Ende des Romans mit denen Meursaults verschmelzen und auch Haroun sich wie Meursault vor dessen Hinrichtung den Hass der Zuschauer wünscht.

Kamel Daoud - Mann mit Pullover und Hemd

CC BY-SA 3.0 von Claude Truong-Ngoc

Der algerische Autor Kamel Daoud hat sich mit der direkten Bezugnahme auf Camus berühmtes Werk Einiges vorgenommen und er kommt auch ganz gut damit zurecht, weil er über die reine Gegendarstellung hinausgeht. So fesselnd wie die Vorlage ist "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" allerdings nicht, und das liegt vor allem an der Sprache. Daouds Protagonist hat sich das Französische erst mühsam aneignen müssen, was er mehrfach betont und da er trinkt, während er seine Geschichten erzählt, wird das Erzählte ein wenig holprig, unstrukturiert und beizeiten redundant. Was für die Figur stimmig ist, kann beim Lesen manchmal zur Qual werden und dennoch bleiben ganze Sätze und Gedanken Wort für Wort hängen.

In Frankreich ist Daoud mit seinem Roman ebenso wie Camus zum Literaturstar geworden und hat Auszeichnungen verliehen bekommen. In Algerien haben Salafisten wegen des Romans eine Fatwa über den Autor verhängt.