Erstellt am: 26. 2. 2016 - 01:00 Uhr
Not-Meer
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Wenn man Karen Duves literarische Krawall-Vision auf einen ganz simplen Nenner bringen möchte, könnte man sagen: dieses Buch liest sich wie die Papier gewordene Chick-Flick-Antithese. Also alles andere als lieb und nett und watteweich. Wer sich auf "Macht" einlässt, bekommt nämlich – ein bisschen wie im echten Leben – die ganz großen menschlichen Abgründe vor's Visier. Aber langsam. Erst ab in die Zukunft. Da spielt Duves grausames Kammerstück: Knappe zwei Jahrzehnte entfernt von hier ist jene Gegenwart angesiedelt, die Karen Duve in flotter Aggro-Prosa skizziert: Eine Welt am Abgrund – wegen der üblichen Verdächtigen in Sachen Zukunftsangst: allein die Klimaerwärmung hat längst, wie es Erzähler Sebastian Bürger nennt, "sämtliche Tipping Points überschritten".
Galiani Verlag
Gletscher plumpsen in Stauseen, Orkane fegen über den Spielplatz und auch gesellschaftspolitisch scheint so ziemlich alles aus dem Lot – jedenfalls, wenn man Herrn Bürger Glauben schenken möchte: "Der Staatsfeminismus" beherrsche Stadt und Land, keppelt der hinreißend getriebene Frauenhasser flapsig vor sich hin. Auch für Erwachsene bestehe seitdem (und wohl nur deshalb!) die Pflicht, beim Fahrradfahren einen Helm zu tragen.
No Ma'am
Wir durchpflügen das soziale Nahumfeld dieses Sebastian Bürger, der (inclusive der eigenen Kinder) fast gar nichts leiden zu können scheint – aber am allerwenigsten erträgt er – die Frauen! Das führt Bürger nicht zuletzt am rüden Umgang vor, den er der Mutter seiner Kinder zuteil werden lässt. Christine war früher Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Kraftwerkstilllegung und Atommüllentsorgung – hier klingt eine Zeit des Aufbruchs nach, kennengelernt hatte man einander in der gemeinsamen Arbeit für ein demokratisches Reformkomitee. Mittlerweile hat Christine ungleich weniger zu melden – ohne zu viel zu verraten, sei in diesem Zusammenhang das Wort "Keller" in den Raum gestellt...
Und draußen auf der Gen-Raps-Wiese? Da kündigt sich der Klima-Kollaps an – schon im April hat es um die 35 Grad, neben den Straßen rauschen aggressive Käfer in Schwärmen durch die Felder und stürzen sich schon auch mal auf Menschen.
"Ich springe vom Rad, reiße mir mein Oberhemd herunter, schaufele damit den größten Teil der Käfer aus Binjas Gesicht und drücke ihr den Stoff straff vor die Lippen, damit sie atmen kann, ohne den Mund voller Käfer zu kriegen."
Sebastian bringt die Kinder gerade zu seiner Schwiegermutter, die ihm ein paar Emissionspickerln abnötigen möchte: weil Fleischkonsum und Treibhausgase dem Planeten den Atem rauben, gehört dieser Mini-Ablass-Handel zum alltäglichen Speiseplan. Auch lecker: Ein spezielles Medikament lässt Menschen Jahrzehnte jünger aussehen. Um den Preis einer höchstwahrscheinlich auftretenden Krebserkrankung ("hervortretende Lymphknoten"...), aber macht nichts: in fünf Jahren ist ohnehin alles vorbei. Da muss auch kein Krokodilsgeheule her, wenn Bürger zwischendurch an die Zeit vor der großen Katastrophen-Kakophonie erinnert und das "kurze Zeitfenster sozialer Gerechtigkeit" in den Blick nimmt, als Handwerker-Kinder noch mit Ärztekindern durch die Wälder streunten. Bürger seziert sachkundig Vergangenheit und den für ihn ja ganz normalen Zukunfts-Wahnsinn, der hier die sprichwörtliche Macht an sich gerissen hat.