Erstellt am: 20. 2. 2016 - 13:13 Uhr
Der ganz alte Käse
Es ist uns natürlich bewusst, dass solche Hefte nicht für uns Bewohner gemacht werden, sondern für die Städtetouristen, die im Zug sitzen und voller Vorfreude schon mal planen, was sie während ihrer Kurzreise übers Wochenende alles erleben wollen. Oder für die Neubürger, die hier ja auch ständig ankommen.
Christiane Rösinger
Und wer lange in Berlin lebt und schon viel über die Stadt geschrieben und gesungen hat, der hat natürlich einen ganz anderen Blick als der Kollege aus der Geo-Redaktion , der ja zudem noch einem gewissen Promo-Event-Tonfall verpflichtet ist. Das ist uns Alt-Berlinern ja klar - da muss man Nachsicht üben. Aber dass es so schlimm wird, hätte man doch nicht gedacht.
Schon der Titel des Hochglanzheftls schmerzt: "Berlin. Cooler, spannender, internationaler". Dann erst mal ein dreiseitiges Ausklapp-Panorama der Spree von Osten her und ein Zitat des jüngst verblichenen David Bowie: "Berlin ist die größte kulturelle Extravaganz, die man sich vorstellen kann". Das könnte uns BerlinerInnen natürlich schmeicheln, aber so einfach lassen wir uns dann doch nicht einwickeln.
Christiane Rösinger
GEO
Ja natürlich ist in Berlin mehr los als in Posemuckl oder im Pfaffenwinkel, das haben Hauptstädte so an sich. In Wien wird mehr geboten als in Hollabrunn, in London gibt es mehr Kunst als in Littlehampton und gegen Paris ist in Chalons en Campagne tote Hose.
Aber in der Tourismusbranche trägt man gerne dick auf, und so geht es weiter: Berlin sei "so romantisch wie Bullerbü, mondän wie die Côte d’Azur und weltstädtisch wie London". Oje.
- Punkt 1: Bullerbü, stimmt leider. Bullerbü liegt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, auch pregnant hill genannt. Das ist so ein Sehnsuchtsort für junge Eltern, die gerne in der Großstadt leben, aber bitte mit blankem Kopfsteinpflaster, urigen Biomärkten, großer Holzspielzeuglädendichte und durchgehender Latte-Macchiato-Versorgung. Die Latte gerne mit Mandelmilch im Pappbecher, den müssen diese Leute dann immer mit sich tragen, wie eine notwenige Sauerstoffversorgung, oder eine eiserne Lunge, ohne die sie umkippen würden.
- Punkt 2: Wenn Berlin irgendetwas nicht ist, dann mondän. Einzelne Ecken in Fünf-Sterne-Hotels und Prominenten-Restaurants mal ausgenommen.
- Punkt 3: Immer dieser Drang, weltstädtisch sein zu wollen, was soll das denn? Was macht denn eine Weltstadt aus? Berlin ist verglichen mit den Metropolen dieser Welt ziemlich klein, relativ gemütlich und hat ein angenehm langsames Tempo. Und was toll ist: Für eine Großstadt gibt es ungewöhnlich viele Parks und Grünflächen mitten in der Stadt und Hunderte von Seen außen rum.
Neben diesen branchenüblichen Übertreibungen und unschönen Sprachbildern findet man im Berlin-Special aber auch geradezu groteske Falschmeldungen. "Wann sagt der Berliner eigentlich Bolle? Sehr oft", steht da, schwarz auf weiß. "Ick gloob, ick spinne", sagt zwar der Berliner auch heute noch, aber in den letzten hundert Jahren ist im gesamten Berliner Stadtgebiet wahrscheinlich keiner lebenden Kreatur jemals: "Ich hab’ mich wie Bolle amüsiert" über die Lippen gekommen. Wahrscheinlich kommt und kam dieser Ausdruck einzig und allein in dem Lied "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten", einem Schwanklied auf den Prototyp des unbekümmerten "rüdigen" Berliners aus der Mitte des 19 Jahrhunderts vor.
Bei den heißen Berlin-Empfehlungen wird dann der ganz alte Käse ausgepackt. Treue FM4-Leser sind zum Glück davor gefeit, in diese Tourifallen zu stolpern, weil wir sie an dieser Stelle ja seit Jahren über das wahre Berlin aufklären.
Bei Geo empfiehlt man 2016 noch die Admiralbrücke, wo "junge Berliner sich gerne zum Sonnenuntergang treffen", wir warnten bereits 2010 vor dieser Deppenversammlung.
Christiane Rösinger
Auch über die Streetfoodplage in der Stadt haben wir unsere Leser vor drei Jahren bereits aufgeklärt, - Geo Special feiert den unseligen Food-Trend als den allerheißesten Scheiß. Seltsam veraltet auch der Bericht zum Flughafen Tempelhof - seit Monaten sind dort Flüchtlinge untergebracht, seit Wochen steht fest, dass dort eine großes Flüchtlingsdorf entstehen wird, keine Rede davon. Man muss den MacherInnen des Hefts allerdings auch dankbar sein, dass sie bei den Ausgehtipps die ollen Kamellen wiederkauen und somit die Touristenströme an Orte führen, wo diese dann unter sich sind und die Einheimischen nicht stören.
Es ist nicht alles falsch und peinlich am neuen Heft, die Fotos sind beeindruckend und immerhin reißt niemand Witze über den nicht fertig werden wollenden Flughafen, dafür widmet man dem FC Union zwei Seiten. Ein gutes Berlin–Special hätte neben der langweiligen Lobhudelei auch gezeigt, wie hässlich und anstrengend und trotzdem wunderschön es in Berlin sein kann, hätte in Neukölln nicht nur die Hipsterbars gezeigt, sondern den Stadtteil, in dem 160 Nationen, nicht immer problemlos, aber doch relativ friedlich zusammenleben.
Aber wer ein Gegengift zur Geo-Stadtmarketing-Broschüre lesen will, der greife virtuell zur Ausgabe des "European". "Berlin ist arm an allem", heißt es da. Da kriegt die Stadt so richtig ihr Fett weg, da zieht der Schreiber mit der hasserfüllten Energie des enttäuschten Liebhabers über Berlin her. Das hat Tradition, das sind wir gewohnt. Wir selbst halten es mit der Sozialarbeiterin Anneliese Bödeker und ihrem Spruch, den es in Berlin sogar auf Postkarten zu kaufen gibt:
"Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau. Baustellen und verstopfte Straßen wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen leid, die hier nicht leben können!"