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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

19. 2. 2016 - 13:01

Auf den Schultern von Sitzriesen

Shearwater lupfen Berge, aber sie versetzen sie nicht.

Es wäre ja nicht die erste Band, die sich an einem Sound-Katalog aus der Vergangenheit abarbeitet, der einem Radiohörer über 30 schaurig bekannt vorkommt. TV on the Radio, Modest Mouse, Death Cab for Cutie und Beirut, allesamt große Bands aus einer vorherigen Epoche, haben letztes Jahr versucht wie Toto, Styx oder Fleetwood Mac zu klingen, sehr zu meinem Missfallen. Neue Musik von guten Bands wollte klingen wie alte Musik von schlechten Bands.

Es gibt da schon einige Erklärungsversuche. Einerseits wurde die "Untergrundmusik" der 70er, 80er und 90er von Kritikerseite derartig mit einem autoritären Ewigkeitsgestus zum immerwährenden Guten erklärt, dass schon ein halbwegs gesunder Widerstandsgeist ausreichen sollte, sich einmal dem "Bösen" zuzuwenden - und das "Böse" waren nun mal Softrock, Studioangeberei, hohe Klagemännerstimmen, gated Drums, Keyboardstreicher, "Beer Commercial Lead Guitar Shit" und kalte, raumlose, frühe Digitalsounds, eben das, was Radiohörern seit 30 Jahren wortreich als der Höhepunkt der Popmusik verkauft wird - indem man alle anderen Wörter im Mainstreamradio verminderte , ja mied, wurde das Mantra von den Eighties als "Pop Peak" sogar nicht unhäufig das einzige, was außer der Zeitansage und dem Sendernamen überhaupt aus dem Radio kam. Und bei unseren privaten Kollegen sehr häufig noch kommt.

Shearwater

Sub Pop

Referenzalben:

  • Peter Gabriel – Third (Melt), 1980
  • David Bowie – Scary Monsters (and Super Creeps), 1980
  • Japan – Gentleman take Polaroids, 1980
  • Talking Heads – Remain in Light , 1980, Speaking in Tongues, 1983
  • Brian Eno / David Byrne – My Life in The Bush of Ghosts, 1981
  • David Byrne – The Catherine Wheel
  • Jerry Harrison – The Red and The Black
  • Kate Bush – The Dreaming , 1982, Hounds of Love, 1985
  • Jean Michel Jarre – Oxygene, 1976, Magnetic Fields, 1981
  • Tangerine Dream – Zeit, 1972, Atem, 1973
  • Talk Talk – The Party’s Over, 1982
  • John Waite – Missing you (Single), 1984
  • NEU! – NEU!, 1972
  • U2 – The Unforgettable Fire, 1984

Oder es gibt auch noch die "Spiegeltheorie", dass die aufgeplusterten und hohltönenden Klangberge, die die koksnasigen Weltbeherrscher der Reagan-Ära in ihren Autoradios so trefflich beschallen konnten, auch den Hipstern und Selbstoptimierern der Jetztzeit gut zu Gesicht stehn. Bret Easton Ellis hat sich dazu meines Wissens noch nicht geäußert.

Shearwater arbeiten sich auch an einem "Retro" ab. Dieser hat etwas Spezielles, hier ist das alles so genau datiert, eingepasst und so fein ziseliert, dass man es nur mehr als historische Klangforschung sehen kann. Und er ist nicht so schaurig wie die Softrockverehrung der Chillwaver oder Dave Siteks Toto Sounds. Wie Jonathan Meiburg in einem sehr interessanten Interview mit dem großen Michael Azzerrad erklärt hat, wollte die Band genau in eine Epoche eintauchen: Es sollte die Zeit sein, als Elektronik gerade begann ein Universum an Klangmöglichkeiten zu eröffnen, eine neue Welt aus Klangteppichen, riesigen Hallräumen, wuchtigen Effekten und allerlei sonstigem Riesenhaften. Eine Zeit der Unschuld und des Beginns, des Beginns von etwas, das in unserer Gegenwart der mobilen Studios am Smartphone und SSD-Speicher zu einem nie gedachten Höhepunkt kulminiert ist. Diese Produktionsmittel haben schon immer mindestens so sehr die Sounds der Zeit bestimmt, wie die Visionen der MusikerInnen oder wie die sozialen Umfelder von KünstlerInnen und Publikum. Und im Besitz dieser neuen, sehr teuren Produktionsmittel zu dieser Zeit waren hauptsächlich sich selbst überwachsende, zu groß gewordene Rockstars, auf der Suche nach Innovation - Peter Gabriel, David Bowie, Phil Collins, Brian Eno - und spinnerte Innovatoren - David Byrne, David Sylvain, Brian Eno als Produzent von Talking Heads und U2, später Mark Hollis von Talk Talk.

Manchmal entdeckt man noch einzelne, kleine, zusätzliche Referenzen auf dieser Platte, die so soundverliebt und ausproduziert wie schon lange keine mehr wirkt – etwa die Vorlieben der Band für die Analogsynthesizer-Klangaufstapler Tangerine Dream oder Jean Michel Jarre, für späte Ausläufer der Sixties "Studio als Instrument" Pioniere wie Alan Parsons. Für den Krautrock von Neu! Und Can, den David Bowie in besagter Epoche gerade hinter sich gelassen hatte, für Big Country und Midnight Oil. Für den doofen Hit "Missing You" eines gewissen John Waite. Einmal wird sogar die raubeinige Sehnsuchtsphrasierung von Chris de Burgh nachgeahmt – die Sängernachahmung ist überhaupt eine der Schwächen dieses eigentlich nicht uninteressanten Experiments, mit ein Grund, warum man es sich nicht wirklich gut anhören kann.

Es geht fast immer um die frühen Achtziger, es geht fast immer um England, es geht fast immer um besagte große alte Bands , die sich an neuer Technologie versuchen, die ihre als eng empfundene alte Musik technologisch transzendieren wollten - vielleicht empfindet sich diese große alte Americana Band ja selbst so, wäre aber lieber in einer Zeit, wo diese technischen Möglichkeiten und die Soundverliebtheit noch mit großer Bedeutung gefüllt werden hätten können – was so eben nicht mehr geht.