Erstellt am: 16. 2. 2016 - 16:25 Uhr
Gottesdienst für Sünder
Manchmal wünscht man sich, es wäre wieder 2004. Künstler/innen und Bands würden ein Album herausbringen und wir könnten es in Ruhe anhören und sickern lassen. Ihre persönliche Meinung könnten wir - wenn wir das wollen - in Interviews oder am Promosheet nachlesen, aber sie würde nicht automatisch unsere Wahrnehmung verfärben. Heute ist das leider anders: Vom Anpfiff der #promophase bis zu Chartseinstiegen, Goldplaketten und/oder Musikpreisen sind Musiker/innen quasi gezwungen, alles sofort zu kommentieren. Und viele Musikmedien bestreiten leider mittlerweile den Großteil ihrer Arbeit auch mit kleinteiligen Berichten über die aktuell kontroversesten Tweets.
Kanye West
Warum zum Beispiel Kanye West nicht schon vor Wochen jemand den Zugang zu seinem Twitter-Account gekappt hat, ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil sein teilweise grenzwertiger Schreibdurchfall dort in der heutigen Welt tatsächlich die beste Werbekampagne für die Sportschuhe, den megalomanisch-chaotischen Event und die neue Platte war. Dass letztere dann noch drei Tage nicht herauskam, weil die Hälfte der Songs noch gar nicht fertig waren, hat selbst die eingeschworensten Kanye-Stans zu Hassern gemacht. Wer sitzt schon gerne viel zu lange mit dem Finger auf der Refresh-Taste vor dem Laptop?
Seit Sonntag gibt es nun zumindest eine einigermassen vollständige Version von The Life Of Pablo zu hören, wenn auch offiziell nur über den von Mr. West mitbetriebenen Streamingdienst Tidal. Und hoffentlich ist es am Ende die Musik, die bleibt, und nicht der ganze Irrsinn rundherum. Musikalisch schafft Kanye West mit seiner Armee an prominenten Mitproduzenten und -vokalist/innen nämlich erstaunlich gut, die unterschiedlichen Stile seiner vorhergehenden Alben zu synthetisieren. Da gibt es zum Beispiel wieder den Maximalismus/Prog Rap, den wir von MBDTF kennen, wenn z.B. in Famous einige von Rihanna nachgesungene Nina Simone-Zeilen auf ein zurechtgepitchtes Sister Nancy und Anfeuerungsrufe von Swizz Beatz treffen. Feedback hingegen lässt dem Bewusstseinsstrom über leicht angezerrte Beats freien Lauf, als hätten die Yeezus-Sessions nie aufgehört.
Das wieder verstärkt eingesetzte Autotune-Crooning bringt uns zurück in die 808s & Heartbreak-Phase, während einige der herausragenden Songs vom Aufbau her sogar noch an die komplett samplebasierten Kanye-Hits von ganz früher erinnern. No More Parties in LA ist so ein Kandidat, ebenso wie 30 Hours, in dem ein atmosphärisches Arthur Russell-Sample ähnlich stark die Richtung vorgibt wie einst Daft Punk oder Ray Charles.
Erstaunlich ist, wie gut diese doch sehr unterschiedlichen Produktions-Ansätze ineinderfließen: Vom minimalistischen Gospelopener Ultralight Beams (mit einer sensationellen Chance The Rapper-Strophe) über Father Stretch My Hands, das im zweiten Teil nahtlos in Panda vom neuen GOOD Music-Talent Desiigner übergeht - bis hin zum Chicago House-Tribut Fade am Ende klingt das eigentlich alles sehr schlüssig und unterhaltsam.
Nur von der geplanten positiven Gospel-Message von The Life Of Pablo bleibt im Verlauf des Albums nicht viel über: Die ehrlichen und introspektiven Stücke, bislang textlich immer die Stärke von Kanye West, lassen sich an einer Hand abzählen. In den restlichen Songs überwiegen Angeberei, Wahnsinn und Sex-Geschichten mit starkem Macho-Unterton. Man lese sich als Beispiel diesen brillanten Vierzeiler durch:
Now if I fuck this model
And she just bleached her asshole
And I get bleach on my T-shirt
I'ma feel like an asshole
First world problems, das Musical.