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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

15. 2. 2016 - 16:28

Männer weinen heimlich

Sex, Musik, Drogen, die 70er in New York. Vor allem Drogen. Die Macht des weißen und des schwarzen Goldes. Zurecht ist die unter der Schirmherrschaft von Martin Scorsese entstandene HBO-Show "Vinyl" der Talk der Saison.

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"Vinyl":
Ab 14.2.2016 parallel zur US-Ausstrahlung in Originalversion abrufbar über Sky Go, Sky Anytime und Sky Online.
Ab 7.4.2016 immer donnerstags, 21.00 Uhr auf Sky Atlantic HD wahlweise auf Deutsch oder Englisch.

Alles ist da, und zwar zuhauf: Frisuren und Brillen, Bärte und Kostüme, breitkragige Hemden aus seltsam glänzenden Stoffen, psychedelische Muster, esoterisch gefärbte Kleidchen.

Und – immerhin in der ersten Episode – eine männliche Erzählerstimme aus dem Off, die mit dem Blick in den Rückspiegel die Story zusammenfasst.

Der gut 2-stündige Pilot der eben gestarteten HBO-Serie "Vinyl" pflegt einen herzlichen Umgang mit der Hyperfetischisierung des eigenen opulenten Styles und des unbedingten Style-sein-Wollens. Und weist sich so ganz klar und ohne Scham als Werk von Martin Scorsese aus.

Vinyl

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Entwickelt hat Scorsese "Vinyl" gemeinsam mit Terence Winter, seinem einstigen Partner im ewig unterschätzen Gangster-Drama "Boardwalk Empire" und unter anderem verantwortlich für das Drehbuch zum Scorsese-Film "The Wolf of Wall Street", dem Journalisten Rich Cohen und Mick Jagger - beim Piloten hat Scorsese auch gleich selbst Regie geführt, weitere Episoden unter seiner Schirmherrschaft sollen folgen.

Dieser Pilot kann beinahe als für sich alleine stehender Spielfilm gesehen werden – es wäre einer der besseren im an sehr guten Filmen nicht armen Oeuvre Scorseses. Dynamisch, verschwitzt, dreckig, prunkvoll, explosiv.

"Vinyl" blickt auf die Plattenindustrie und das Musikbusiness der frühen 70er in New York und präsentiert sich dabei als eine weitere Neuerzählung in neuem Setting der ewigen Scorsese-Geschichte, wie wir sie aus "Goodfellas", "Casino" oder auch "The Wolf of Wall Street" kennen: Eine archaische Geschichte, in der Männer sich noch als Macher und Besorger beweisen müssen wollen, von ganz unten kommen sie nach ganz oben und stürzen, verschuldet durch den eigenen Übermut, wieder ab: "But in the end we fucked it all up", sagt Joe Pescis Figur in "Casino". Auch in der ersten Episode von "Vinyl" ist der Untergang nicht bloß erst schemenhaft auszumachen.

Vinyl

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Ähnlich wie schon "Boardwalk Empire" verwebt "Vinyl" seine fiktionale Story mit Elementen von tatsächlich real geschehener (Musik-)Geschichte. Das zu weiten Teilen erfundene Personal der Show trifft auf, spricht über, geht auf Konzerte von Led Zeppelin, The Velvet Underground, den New York Dolls – wiederum von Schauspielern dargestellt. Im Zentrum steht der fiktive Plattenboss Richie Finestra, ein ganz und gar Scorsese’scher Held, Antiheld, geprägt von Machismo, Selbstüberschätzung, erratischem Suchtverhalten und mächtigen Versagensängsten.

Darsteller Bobby Cannavale – vermutlich am besten als ungnädiger Oberschurke Gyp Rosetti in der dritten Staffel von "Boardwalk Empire" bekannt – dürfte in diesem Richie Finestra wieder eine Rolle seines Lebens gefunden haben, er gibt ihn als gebeutelten, kernigen, zwanghaften Platzhirschen von imposanter Physis, in der sich Virilität, Brutalität und eine leise ungelenke Tollpatschigkeit mischen.

"Vinyl" erzählt vom Straucheln von Finestras Plattenlabel, einst einem wichtigen und großen Player auf dem Markt, mittlerweile schwimmen dem Label die Felle davon, kommen ihm die zugkräftigen Bands abhanden, für neue, upcoming, heiße Acts ist der Riecher ebenfalls nicht mehr so recht in Form. Gleichzeitig werden jedoch nach wie vor horrende Summen für die Betreuung der Naseninnenräume verpulvert. Die eigenen und die von eventuell nützlichen Geschäftspartnern.

Richie Finestra taumelt zwischen drogeninduzierten Euphoriephantasien, Depression und dem Erproben des trockenen, cleanen Lebens. Ihm zur Seite, ihm gegenüber steht seine Ehefrau - großartig erweckt hier Olivia Wilde mit diesem Charakter eine wiederum scorsese-typische Frauenfigur zum Leben: Einst selbst Partygirl und dem Glitzer und dem Staub des Nachtlebens und dem guten Toilettensex nicht abgeneigt, lustvolle Komplizin der männlichen Hauptfigur, mitunter auch bloßes austauschbares Accessoire und Trophäe, mittlerweile jedoch letzte Erdung im vermeintlich normalen Leben und einzige Stimme der Vernunft.

Wenn Olivia Wildes Figur während einer Autofahrt in Episode 2 mit traurigen Augen einen abermaligen Rückfall des Gemahlen in den Rausch reflektiert und dazu der Song "Yesterday once more" von den Carpenters erklingt, ist das plakativ, aber doch auch erhebend und, ja, rührend.

Vinyl

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Und so funktioniert "Vinyl" klarerweise auch als Dokument der Musikgeschichte, zeichnet Entwicklungen von Glamrock und Rock’n’Roll skizzenhaft nach, kündet von der Ankunft von HipHop, Disco, Punk. Anhand der Figur eines afroamerikanischen Blues-Musikers, dessen Karriere Plattenboss Richie Finestra in der Erzählvergangenheit der Show unbeabsichtigt zugrunde gerichtet hat, transportiert "Vinyl" mit einem Kniff die Einsicht, dass das vornehmlich "weiße" Rock’n’Roll-Geschäft eben auch auf dem Rücken und der Vergangenheit afroamerikanischer Musikkultur errichtet worden ist.

Bislang ist "Vinyl" eher an der Erschaffung einer detailreichen, bunten Welt interessiert, weniger an mechanischer Plot-Bewegung. Elektrische Figuren (neben vielen anderen herausragend: Ray Romano als Finestras Partner, Juno Temple als Label-Assistentin und Drogenbeauftragte mit Ambition oder Andrew Dice Clay als schmieriger Radiomogul) schwirren durch aufwendig aufgerüschte Kulissen. Eine Materialschlacht, ein Vibrieren der Sinneseindrücke, ein deftig parfümierter Liebesbrief an die Kunst.