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Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

15. 2. 2016 - 16:33

Griechenland: "Vor dem Punkt Null"

Die Gläubiger verlangen mehr Anstrengungen, das Land versinkt in der Rezession und die Wut der BürgerInnen wird immer größer.

Vor einen Jahr hielten in Athen tausende Demonstranten auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament Plakate mit Unterstützungsparolen für die frischgewählte linksgerichtete Regierung von Alexis Tsipras hoch. Zu diesem Zeitpunkt verhandelte Tsipras in Brüssel mit den Gläubigern um eine Schuldenreduzierung und ein Ende der Sparpolitik.

Nun hat sich in den letzten Wochen die Stimmung in Griechenland rasant geändert, nachdem klar geworden ist, dass Tsipras die Forderungen der Gläubiger umsetzen wird und keinen alternativen Plan parat hat. Auf den Plätzen vor dem Parlament und anderer Regierungsgebäude zeigen sich immer wieder Wut und Enttäuschung.

An einem Tag protestiert die sogenannte Krawatten-Bewegung, Anwälte und andere Selbständige, die sich gegen die anstehende Renten- und Steuerreform stellen. An einem anderen Tag werden protestierende Rentner mit Tränengas attackiert und von Spezialeinheiten angegriffen. Am Freitag und Samstag kampierten auf dem Syntagma-Platz Landwirte aus ganz Griechenland mit der Forderung, die Rentenreform zurückzunehmen und nicht ihre Privilegien bei der Einkommenssteuer abzuschaffen. Die Landwirte sollen, wie viele Selbstständige, mit höheren Steuern und Abgaben zur Sanierung der schwer defizitären Rentenkassen und der Staatsfinanzen beitragen. Die internationalen Kreditgeber erwarten, dass Athen 1,8 Milliarden Euro einspart.

Protestierende Rentner

Chrissi Wilkens

In den Tagen zuvor hatten sie mit ihren Traktoren mehrere wichtigen Straßen in ganz Griechenlans blockiert, was auch den Durchzug von Flüchtlingen beeinträchtigte, die versuchen, über die griechisch-mazedonische Grenze Mitteleuropa zu erreichen. Zu einem Dialog mit der Regierung scheinen viele Landwirte nicht mehr bereit zu sein, weil sie fürchten, dass sich die einfach auf die Forderungen der Gläubiger ausreden würde. "Wir sollen gleich mit den Repräsentanten der Gläubiger sprechen", sagte während der Proteste ein Landwirt aus Kreta in einem TV-Interview. Durch die griechischen und internationalen Medien gingen Bilder, auf denen Bauern mit Hirtenstäben in den Händen erschrockene Spezialeinheiten der Polizei in den Straßen der griechischen Hauptstadt jagten. Die Landwirte wollen ihre Proteste mit Straßenblockaden in den Provinzen fortsetzen.

Die Flitterwochen der Regierung mit der Gesellschaft sind längst vorbei. Bei den Wahlen am 20. September, als Tsipras überraschend wieder die Macht gewonnen hatte, obwohl er im Sommer und nach dem eindeutigen "Nein" im Referendum in den Sparkurs der Gläubiger einwilligte, lag die Wahlbeteiligung bei knapp 55 Prozent. Das war die niedrigste der letzten Jahrzehnte. Diese stille Masse, die sich des Urnengangs enthielt, hat jetzt eine Stimme in den Straßen Griechenlands gefunden.

"Die Proteste sind die Stimme, die zum Schweigen gebracht wurde, als sich ein Volk im Referendum gegen die Sparmemoranden gestellt hat - ungeachtet der Konsequenzen, die eine solche Entscheidung mit sich bringen würde. [...] Die Menschen, die in der nahen Zukunft auf die Straße gehen werden, kann man nicht als Linke oder Rechte bezeichnen, weil weder die Linke noch die Rechte in der Lage ist, diese Wut zu inspirieren und zu organisieren", so der Kolumnist Aris Chatzistefanou in seinem alternativen Webportal Info-War.

In einer Umfrage der Universität Makedonien in Thessaloniki sind 85 Prozent der befragten BürgerInnen mit den Leistungen der Regierung unzufrieden. Bei manchen Umfragen führt sogar die konservative Oppositionspartei Nea Demokratia, die inzwischen einen neuen Vorsitzenden hat und versucht, ein neues, volksnahes Gesicht zu zeigen. Bemerkenswert ist, dass sogar traditionell dem Staat nahestehende Gruppen Warnungen an die Regierung schicken.

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte wies zum Beispiel Anfang des Monats darauf hin, dass weitere Maßnahmen die Chance der BürgerInnen auf ein würdiges Leben beeinträchtigen würden. Griechenland solle aufhören, das wirtschaftliche Versuchstier Europas zu sein, hieß es. Auch Polizisten demonstrierten vor ein paar Tagen vor dem Sitz des Premiers. "Alexis, warum tötest du dein Volk?", stand auf einem Plakat, das ein grauhaariger Polizist hielt.

Obdachlose in Athen

Salinia Stroux

Auch von linken Symbolfiguren kamen harte Worte für Tsipras und seine Regierung. Griechenland erlebe die Folgen des Fehlens einer Politik seitens des Linksbündnisses Syriza, schrieb der berühmte Komponist Mikis Theodorakis in einem offenen Brief und wies darauf hin, dass die Regierung und das Volk "vor dem Punkt Null" stünden. Tsipras und seine Regierung seien zu "Prälaten einer neoliberalen rechten Politik" geworden, die von ausländischen Institutionen diktiert werde, so Theodorakis. Ein paar Tage zuvor bat der Volksheld Manolis Glezos beim griechischen Volk um Entschuldigung, weil er Menschen vertraut hatte, die es nur auf die Eroberung der Macht abgesehen hatten.

Dabei hätte Tsipras gerade jede Unterstützung mehr denn je nötig, denn er steht zwischen allen Fronten. Der Druck - sowohl im Inland als auch im Ausland - ist enorm. Er muss unter anderem die unpopuläre Renten- und Steuerreform durchs Parlament bringen, damit Griechenland weitere Hilfskredite bekommt. Seine Koalition verfügt aber nur über eine hauchdünne Mehrheit von 153 der 300 Mandate. Dazu müsste die Überprüfung der ersten Reformschritte bereits im letzten Herbst abgeschlossen worden sein, damit die vereinbarten Hilfskredite fließen. Jetzt hofft man, dass dies im März der Fall sein wird.

Finanzminister Efklidis Tsakalotos sagte, dass sein Land vor einem ernsten Problem stehen würde, sollte die Überprüfung bis Mai oder Juni nicht abgeschlossen werden.

Mit dem Entwurf der Rentenreform scheinen die Gläubiger unzufrieden und fordern mehr Anstrengungen. Vorige Woche hatte der Direktor der Europa-Abteilung des Internationalen Währungsfonds Poul Thomsen die Reformpläne der Regierung kritisiert und verlangte "einen glaubwürdigen Plan vorzulegen, wie sie ihr sehr ehrgeiziges mittelfristiges Überschussziel erreichen will". Er verlangte auch Einsparungen bei den Pensionen, was von der Regierung bisher ablehnt worden war und warb gleichzeitig für eine Schuldenerleichterung. Eine Delegation der Gläubiger-Institutionen soll in den kommenden Tagen erneut nach Athen reisen.

Die EU-Kommission sagt den Griechen ein schwieriges Jahr voraus: Die Wirtschaft wird demnach um 0,7 Prozent schrumpfen. Im Jahr 2017 soll sie dann mit 2,7 Prozent zwar spürbar wachsen, die Arbeitslosigkeit liegt aber weiterhin über 24 Prozent. Hunderte junge Menschen verlassen Griechenland weiterhin auf der Suche nach Arbeit und hunderte Unternehmen verlegen wegen der hohen Steuern ihren Sitz nach Zypern oder Bulgarien.

In der Flüchtlingskrise droht Griechenland wegen Vorwürfen bezüglich Mängel bei der Grenzsicherung ein vorübergehender Ausschluss aus dem Schengen-Raum. So eine Entwicklung hätte weitere Folgen für die schwer angeschlagene Wirtschaft und den Tourismussektor. Dass andere Länder entlang der Balkanroute ihre Grenzen immer dichter machen, um die Flüchtlingsströme einzudämmen, drängt die Regierung noch weiter an die Wand, da man damit rechnet, dass Tausende von Schutzsuchenden in Griechenland stecken bleiben werden, obwohl das Land nicht in der Lage ist, sie zu versorgen.

Athen versucht, die Registrierungsstellen (Hotspots) auf den Inseln noch diesen Monat fertig zu machen. Das Verteidigungsministerium hat die Verantwortung für Bau, Organisation und Betrieb dieser Hot Spots übernommen. Darüber hinaus sind zwei große Flüchtlingslager bei Piräus und Thessaloniki geplant. Auch gegen diese Pläne gibt es immer wieder Proteste von BürgerInnen und der lokalen Verwaltung.

Die Zustimmung Athens zu einem NATO-Einsatz in der Ägäis, um die Flüchtlingε schon vor ihrem Eintritt in europäische Gewässern zu stoppen, wird von mehreren GriechInnen als ein weiterer Schlag gegen die Souveränität des Landes betrachtet. Immer mehr Griechen fühlen sich von der EU alleine gelassen. In einer aktuellen Studie für das Institut Dianeosis glauben mehr als 46 Prozent der Befragten, dass die Mitgliedschaft in der EU der wirtschaftlichen Entwicklung in Griechenland geschadet hat. Beobachter fürchten auch deshalb, dass sich nationalistische Kräfte in Griechenland stärken könnten und mehr politische Instabilität sowie soziale Unruhen verursacht würden, was schließlich sogar den Weg für Griechenlands Ausschluss auch aus der Eurozone ebnen könnte.