Erstellt am: 11. 2. 2016 - 20:00 Uhr
Das Konzentrat des Zweifelns
Von wegen Schreibblockaden. Die kennt der Autor Tilman Rammstedt nicht. Ihn plagen vielmehr Zweifel. Er suche daher immer wieder nach Strategien, um den Zweifel niederzuringen. "Ich kenne es nur ausführlich zu zweifeln und immer wieder neu anzusetzen und immer wieder zu verwerfen was ich angefangen habe."
Also hat er nach einer zwar brutalen aber sehr effektiven Möglichkeit gesucht, diesem Zweifel nicht zu viel Raum zu geben - mit dem Projekt "Morgen mehr".
Carolin Saage
Seit 11. Jänner kriegt man gegen eine Abogebühr werktags täglich ein Kapitel dieses Fortsetzungsroman zugeschickt. Per mail oder Whatsapp. Für die Ungeduldigen gibt es schon am Vorabend die Kurzversion in Emojis (siehe unten). Alle anderen erhalten pünktlich um 8:00 Uhr einen weiteren Einblick in die komplizierte Welt des Erzählers.
Tilman Rammstedt/Carl Hanser Verlag
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Tilman Rammstedt/Carl Hanser Verlag
Tilmann Rammstedt scheint vor Ideen zu sprudeln, dabei war ihm Anfangs gar nichts klar. "Das machte mir auch große Sorgen. Die Nächte, bevor es los ging waren häufig panisch, weil ich dachte 'ich muss da irgendeine Idee haben'." Auch wenn ihn der Verlag immer wieder beruhigte, dass die Idee ja sei, dass er keine Idee habe.
"Ich schreibe tatsächlich auf Sicht – ich weiß morgens nicht, wie es weitergeht und muss die Lösung finden."
Tilman Rammstedt/Carl Hanser
Und die findet er täglich aufs Neue überraschend gut. Abgesehen von den gelungenen Figuren erfreut man sich in diesem im besten Sinn Entwicklungsroman an den verschiedenen Formen und am Humor. Am Komischen und Absurden, das aber Hand in Hand geht mit der Traurigkeit, der Sehnsucht und der Melancholie.
Tilman Rammstedt erweist sich nebenbei und zufällig, wie er sagt, auch als Meister des Cliffhangers.
Dabei hat er für Handlung nur wenig übrig. In einem Kommentar schreibt er:
"Handlung ist so etwas wie der natürliche Feind des Schreibens. Ich finde es unendlich mühsam, Handlung zu beschreiben, und besonders für die Handlung notwendige Bewegungen, und an einem nicht gerade für die Ewigkeit angelegten pragmatischen Satz wie dem gestrigen „Dimitri fing an, ihn näher an die Uferkante zu schleifen, der Plastikeimer kratzte laut über den gefrorenen Boden, eine Möwe erwachte verwundert, dann war die Kante erreicht“ sitze ich so lächerlich lange, dass ich die genaue Zeit hier lieber nicht nenne, und ohne am Ende das Bedürfnis zu haben, sofort den Crémant entkorken zu wollen."
Tilman Rammstedt/Carl Hanser
Die Handlung selbst fällt ihm täglich beim Schreiben ein. "Mit dem Nachdenken bin ich nicht so besonders gut – jedenfalls nicht beim Nachdenken ohne dabei etwas zu tun."
Kommentare
"Morgen mehr" lebt auch von den Kommentaren der LeserInnen - über 1000 sind das mittlerweile. Aus diesen hat sich eine Art Parallelwelt zum Roman entwickelt, wobei Tilman Rammstedt klar stellt, dass es sich um keinen interaktiven Roman handelt. Ursprünglich hatte er Angst vor den Kommentaren und war sich nicht sicher, ob er die überhaupt lesen wird. Mittlerweile freut er sich darüber.
Die Kommentare beziehen sich auch immer wieder auf das tägliche Selfie des Autors, bzw. umgekehrt.
Tilman Rammstedt/Carl Hanser Verlag
"Natürlich schreibt man auf diese Weise keine Romane," erklärt Tilman Rammstedt. "Aber ich will wissen, was passiert, wenn man das so macht." Knapp 2.000 Abonnenten wollen das offenbar auch. Und täglich werden es mehr, freut man sich im Verlag.
Nur einer ist derzeit nur so halb erfreut: der Autor selbst. Bis 8. April muss er noch durchhalten bzw. schreiben. Im Telefoninterview (für was anderes hat er keine Zeit) gesteht er, dass manchmal ein bisschen Hüttenkoller aufkomme. Auf die Aufmunterung, dass die Hälfte doch schon fast geschafft sei, seufzt er "Erst die Hälfte. Oweh."
Und am Ende bittet er "Können wir nicht noch weiter reden?". Nein. Schließlich wollen wir auch morgen mehr!