Erstellt am: 10. 2. 2016 - 19:01 Uhr
'66 and so much more than all that
In der Nacht nach meiner Montagssendung bin ich ganz verschwitzt aufgewacht, mit diesem Knistern hinter den Ohren, das ich kenne, seit ich vor ca. 37 Jahren oder so zum ersten Mal eine Aufgabe vergessen hab.
Warum hatte ich nichts von The Action gespielt?
Da liest man über 600 Seiten über das Jahr 1966, „The Year the Decade Exploded“, interviewt den Autor des Wälzers, Pop-Historiker Jon Savage zwei Stunden lang im Verlagsbüro, im Auto auf der Fahrt nach Bermondsey und ebendort im Fashion & Textile Museum (wo Savage einen Vortrag über sein Buch zu halten hatte), und meine Lieblingsband jenes Jahres, dank ihrer London Working Class-Fusion aus weißem und schwarzem amerikanischem Surf- und Soul-Sound, kommt weder im Gespräch, noch in meiner ebenfalls zweistündigen Spezialsendung vor.
Fail, wie die Kinder sagen würden.
Und dann, gestern, erreicht mich der Vorwurf des Zeitzeugen Erhard Stackl, in einem meiner Zeitungsartikel zum Thema hätten Hinweise auf Epoche machende Alben von Dylan, den Beatles und den Beach Boys gefehlt („Blonde on Blonde“, „Revolver“ und „Pet Sounds“). Unrund, sagt er.
Wozu mir jetzt auch nur ein noch Selbstanklagenderes „Und was war mit den Byrds?“ einfällt.
Grundsätzlich einmal, und ich hoffe, das kam auch in der Sendung halbwegs rüber, geht es in Savages "1966" nicht ums komplette Aufzählen, sondern um einen spannenden Spagat:
Einerseits die endlos überreportierten Sixties zu demystifizieren, indem er auch jene Seite thematisiert, die so ganz und gar nicht mit dem Austin Powers- aber auch nicht mit dem Funfunfun- oder dem Gegenkultur-Stereotyp zusammenpasst. Seien es so Sachen wie der amerikanische Charts-Erfolg einer Kriegspropaganda-Single wie „The Ballad of the Green Berets“ oder der möglicherweise erste dezidierte Retro-Hit „Winchester Cathedral“ von der New Vaudeville Band.
Andererseits aber geht es auch um das genaue Gegenteil von Obskurantismus, nämlich die hinlänglich bekannten Hits jenes thematisch hyperkomprimierten, zwischen der British Invasion und der Bubblegumisierung von Psychedelia eingeklemmten Jahrgangs einmal ganz ernsthaft in ihrem sozialen und politischen Kontext zu betrachten, anstatt sich in endlos erzählten Geschichten über Lebenswandel und Arbeitsweise der Bands der Zeit zu ergehen.

Twitter Fashion & Textile Museum
Als ein Mensch, der den Großteil seiner Jugend in den Tonträgern der Sixties verbrachte, hatte ich zum Beispiel keine Ahnung, dass der britische Konsum-Boom, der die Pop-Revolution der drei Jahre davor ermöglicht hatte, 1966 bereits zu Ende war und Harold Wilsons Labour-Regierung alle Lohnerhöhungen aussetzen ließ (auch daher das resignierte "Sunny Afternoon").
Mir war detto nie klar, dass etwa die Yardbirds-Singles „Shapes of Things“ und „Happenings Ten Years Time Ago“, chronologisch bloß ein paar Monate von einander getrennt, zu ihrer Zeit in Großbritannien jeweils als revolutionäres Statement und als unentschuldbar alter Hut rezipiert wurden.
Ich hätte auch in dem gesprochenen Dialog am Ende des von Joe Meek unter dem Namen der Tornados produzierte Instrumentals „Do You Come Here Often“ nicht dessen eigentlich ziemlich offensichtliches Coming Out herausgehört (Homosexualität wurde in Großbritannien erst 1967 legalisiert).
Genauso wenig bewusst war mir, was für eine konkrete, entscheidende Rolle der spätere Präsident Ronald Reagan im republikanischen Backlash jener Zeit spielte, dessen neoliberale Ideen uns 50 Jahre später gerade in den nächsten, diesmal wohl nicht mehr mit einem staatlichen Bail-Out zu behebenden Crash führen. In Reagans damaliger Kampagne gegen die Student_innen von Berkeley und die Kids vom Sunset Strip liegt eindeutig wiedererkennbar der Keim von Donald Trump (dass Reagan und sein Schatten in den britischen Kinos gerade in seiner Rolle in der McCarthy-Ära in „Trumbo“ und im historischen Abriss zur Erklärung des letzten Crash in „The Big Short“ wieder auftauchen, ist kaum ein Zufall – wir stehen mitten in einem Definitionskampf).
Ich kann auch, seit ich „1966“ gelesen habe, nicht mehr den über die vorangegangenen drei Jahre verteilten, klassischen Singles-Triptychon "Dancing in the Street", "Heatwave" und "Nowhere To Run" von Martha & The Vandellas hören, ohne sie als kodierten Soundtrack für die Summer Riots von Watts bis Detroit zu verstehen.
Deren Nachspiel schließlich 1966 zur Spaltung zwischen dem gewaltfreien und gewaltbereiten Civil Rights Movement führte. Und in Konsequenz zur Gründung der Black Panther Party.
All das ergibt Sinn und öffnet neue Sichtweisen, wenn man Savage liest, der (wie schon seine Bücher „England's Dreaming“ über Punk und „Teenage“ über die Vorgeschichte der Jugendkultur 1875-1945 belegten) ein außergewöhnlich scharfes Auge für den zeitgeschichtlichen Zusammenhang von Pop besitzt. Und der Popkultur "als quasi-philosophisches System" für voll nimmt.
Falls ihr also der ollen Sixties – verständlicherweise – müde sein solltet, nur ein kleiner Hinweis: Um die konkreten historischen Referenzen hinter Beyoncés „Formation“-Performance in der Super Bowl-Halbzeit zu verstehen, die Savage als erklärter Verächter jeder Vermengung von Sport und Pop allervermutlichst versäumt hat, lohnt es sich, zumindest sein Kapitel über die Black Panthers und Stokely Carmichael zu lesen, bzw. sich zu Gemüte zu führen, was er im Interview in meiner Sendung zu diesem Thema zu sagen hatte.
Von der Musik einmal ganz zu schweigen. Sagen wir einmal, The Action war nicht die einzige gute Band in dem Jahr. Oder sagen wir (alles, wo "Ace" als Label steht, ist aus Jon Savages eigener "1966" Compilation):
Heartbeat, 8.2.2016
Artist | Titel | Label |
---|---|---|
Field Music | Trouble at the Lights | Memphis Industries |
The Tornados | Do You Come Here Often? | Ace |
Small Faces | Green Circles | Immediate |
The Yardbirds | Happenings Ten Years Time Ago | Ace |
The Roosters | One of These Days | Ace |
The Who | I'm A Boy | Polydor |
Norma Tanega | Walking My Cat Named Dog | Ace |
The Uglys | The Quiet Explosion | Ace |
Sandie Shaw | Nothing Comes Easy | Ace |
Jacques Dutronc | Et Moi Et Moi Et Moi | RPM |
Ray Sharpe with the King Curtis Orchestra | Help Me (Get the Feeling) | Ace |
Simon & Garfunkel | The Sound of Silence | CBS |
The Association | Along Comes Mary | Ace |
We The People | In The Past | Ace |
The Kinks | Sunny Afternoon | Pye |
Tom Jones | Green Green Grass of Home | Universal |
Tim Hardin | Hang on to a Dream | Ace |
The Velvet Underground | I'll Be Your Mirror | Verve |
The Beatles | Tomorrow Never Knows | Parlophone |
Otis Redding | I Can't Turn You Loose | Atlantic |
Bob Dylan | 4th Time Around | CBS |
The Electric Prunes | Ain't it Hard | Ace |
Count Five | Psychotic Reaction | Ace |
Jefferson Airplane | Don't Slip Away | BMG |
Love | 7 and 7 is | Ace |
The Impressions | Ridin' High | Spectrum |
The Rolling Stones | Have You Seen Your Mother, Baby (Standing in the Shadow) | Decca |
B.B. Blunder | Freedom | Long Hair |

Twitter Nile Rodgers
Man kann sie hier bis Sonntag nachhören: