Erstellt am: 5. 2. 2016 - 18:28 Uhr
Gebannt
Es ist ein merkwürdiger Anruf, den der pensionierte Richter Avischi Lasar spätabends erhält. Da fragt ihn einer, den er nicht zuordnen kann, ob er ihn um einen Gefallen bitten könnte. Er solle zu einer Vorstellung kommen. Aber was dieser Stand-up Comedian am anderen Ende der Leitung will, sagt er nicht.
David Grossman jüngstes Buch beginnt also mit einer eher befremdlichen Situation. Und mit Witzen. Denn dieser Stand-up Comedian stellt sich als Dovele Grinstein vor und mit dem Beginn seines Auftritt setzt die Handlung des Buches mit dem Titel "Kommt ein Pferd in die Bar" ein. "Kommt ein Pferd in die Bar", das ist auch der Beginn eines israelischen Witzes. Denn einen Abend lang will Grinstein unterhalten und mehr als das.
Carl Hanser Verlag
Meisterhaft erzählt
Ist jemandem etwas Schlimmes widerfahren, kann es helfen, angehört zu werden. Dovele Grinstein will angeschaut werden. Mit hagerem, ausgemergeltem Körper voll Narben steht er vor dem Publikum, wenn er sein Oberteil hochzieht. Was hat Avischi Lasar mit ihm zu tun? Wo haben sich die Leben dieser beiden Männer gekreuzt? Wohnt man einem Rachefeldzug oder einer Versöhnung bei? Schnell wird einem als LeserIn klar, dass an diesem Abend in der israelischen Stadt Natanja die Witze nach Skript nur ein Vorwand für das tatsächliche Programm sein werden. Verstört reagiert das Publikum in dem Lokal, als sich Dovele Grinstein immer wieder selbst schlägt, wenn etwas nicht gelingt. Bald kündigt er an, von der ersten Beerdigung seines Lebens zu erzählen.
Wie unterhaltsam kann man von einem Kindheitstrauma erzählen
"Niemand von uns weiß doch, was Frieden überhaupt ist", sagte Grossman in einem Interview mit Sandra Kegel. "Seit dreißig Jahren gibt es keinen Frieden, stattdessen besetzen wir das Land der Palästinenser und strapazieren Ideologien, um unser Handeln zu rechtfertigen."
David Grossman ist 1954 in Jerusalem geboren, sein Sohn ist im Libanonkrieg getötet worden. Grossman gilt als Friedensaktivist und bezeichnet sich als kritischen Patrioten.
Sabine Lohmüller
David Grossman ist einer jener israelischen Autoren, die auch im deutschsprachigen Raum bekannt sind. Grossman hat Literatur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben. "Kommt ein Pferd in die Bar" wurde von Kritikern auch ein Experiment genannt. Auch in dieser Geschichte ist das Erleben als Kind von zentraler Bedeutung. Dieser Grinstein ist der Sohn eines Paares, das die Shoah überlebt hat. Das Überleben der Eltern wirkt nach, doch die Schrecken seiner Kindheit sind zusätzlich andere. Grinstein ist so klein und leicht, dass ihn Gleichaltrige als lebenden Fußball durch die Gegend werfen und treten. Es ist nur eine ungezählter Demütigungen und Grausamkeiten. Grossman erzählt derart wendig, dass einen all dieses Leid kaum stocken lässt. Dovele Grinstein rechnet nicht ab. Er versucht, die Erinnerungen zu pervertieren, ins Lustige zu drehen und damit zu punkten, wie als Bub, als er kopfüber auf Händen gelaufen ist, um Schlägen zu entkommen.
Das klingt jetzt furchtbar, entsetzlich und trist. Tatsächlich erzählt David Grossman von Leben und meisterhaft von menschlichen Reaktionen auf Unvorhergesehenes. Man nimmt dieses Buch in die Hand und kann nicht aufhören zu lesen. Suspense, Suspense, die kein Happy-End vermuten lässt. Den ganzen Abend lang wird Grinstein das Lokal des Auftritts nicht verlassen. "Kommt ein Pferd in die Bar" ist ein Kammerspiel in einem rasanten Tempo. Zugleich passt es, dass mitten im Geschehen ein erfundenes Wort wie "Seelenschatten" zu lesen ist. Esoterisch ist das keine Sekunde lang. Gruppendynamische Prozesse könnte man anhand der Handlung erörtern, sich philosophischen Fragen stellen.
Wie gut, dass David Grossman bereits Romane geschrieben hat, die ins Deutsche übersetzt wurden. So kann man nach diesem Buch gleich zum nächsten greifen. "Kommt ein Pferd in die Bar" ist übrigens sehr toll übersetzt von Anne Birkenhauer. Das wird allen auffallen, die öfter aus dem Hebräischen übersetzte Romane lesen.