Erstellt am: 7. 2. 2016 - 11:20 Uhr
(K)Eine Liebesgeschichte
Liebe kann das Beste und das Schlechteste aus uns hervorholen. Im Fall von Alexander Wertheimer, der Hauptfigur in Thomas Jonigks neuem Roman "Liebesgeschichte", wird sie zur Obsession. Also: eher zweite Kategorie.
Droschl
Mehr Buchtipps gibt es hier fm4.orf.at/buch
Ersteindruck Buchumschlag: Die liebes geschichte wird klein und getrennt geschrieben. Sonst sieht man eigentlich nur schwarz. Rosa Herzen müssen nicht wirklich sein, wir sind immerhin nicht in der Süßwarenabteilung mit Rosamunde Pilcher, aber das ist doch ein straffer Gegensatz zum doch generell positiv konnotierten Keyword "Liebe".
Fazit Buchumschlag: die Geschichte ist außen an Material wie innen an Inhalt schwarz.
Von einfühlsam zu gruselig
Alexander Wertheimer ist Arzt. Eines Tages stolpert eine noch sehr junge, offenbar traumatisierte und verletzte junge Frau in seine Ordination. Eigentlich hat Alexander schon Feierabend, hat aber Mitleid, nimmt sie auf. Abstoßend findet er nur ihre Begleitung - ihren grobschlächtigen, offensichtlich gewaltfreudigen Begleiter. Im ersten Moment liegt der Verdacht nahe, er habe sie misshandelt. Unter Alkoholeinfluss, höchstwahrscheinlich.
Schnell sucht Alexander einen Weg, die Patientin – Maria, eine Ukrainerin – von ihrem Widersacher zu befreien. Er nimmt sich ihrer an, kümmert sich rund um die Uhr. Was hier klingt wie die einfühlsame, vor Berufsethos strotzende Handlungsweise eines verantwortungsbewussten Mannes wird gruseliger, je weiter die Seitenzahl des Romans voranschreitet.
Jetzt, in der Nacht, ist Maria blass, fast unsichtbar. Ich betrachte sie, hingerissen/fassungslos angesichts von soviel Schönheit.
Verliebt ist Alexander von Anfang an. Die feine Nuance vom schüchternen Ich-finde-dich-toll ist aber schnell verflogen. Seitenweise folgen Beschreibungen von seiner Besitzsucht in Bezug auf Maria, auf ihren Körper. Dem Drang, sie nur für sich allein zu haben. Sie zu berühren. Auch wenn Alexander zwischen seinem Verlangen und Selbstvorwürfen schwankt:
Das Einzige, was ich empfinde, ist ein ansteigendes Maß an Selbstekel, EKEL VOR MIR SELBST, der in diesem Augenblick zu so etwas wie Fassungslosigkeit wird, zu einem ebenso kraft- wie sinnlosen Aufbegehren gegen eine Liebe, die ich mir anders vorgestellt habe.
Thomas Dashuber
Die Untersuchungen, die notwendig sind, lassen Körperkontakt zu, abgesehen davon ist Maria in den ersten Stunden so gut wie bewusstlos. Alexander überschreitet in diesem Moment jedoch nicht die letzte Grenze.
Plötzlich ist Maria weg.
Sie entwischt der nur einmal unvorsichtigen Obhut des Arztes, der sie wie einen Goldschatz hütet. Sie läuft zurück zu ihrem Freund. Kurz darauf verschwindet sie erneut, um unter dubiosen Umständen in Alexanders Wohnung wiederaufzutauchen. Nicht sofort, aber nach und nach wird klar, dass er sie dort wie eine Art Gefangene hält. Sie hat zwar Möglichkeiten, davonzulaufen, lässt dies aber sein. Irgendwie haben die beiden eine schräge – aber doch – Art von Übereinkunft.
Von Opfern und Bestien
Die Theorie, dass der Aggressor unter seiner eigenen Gewaltausübung leidet, hätte ich aus den Mündern von euch hochverehrten Mördern, Zynikern, Gewalttätern, Vergewaltigern und BESTIEN als kriminell bezeichnet. Als feige. Jetzt spüre ich, dass sie (zumindest partiell) nicht von der Hand zu weisen ist. In bestimmter Hinsicht existiert zwischen Opfer und Täter keine Grenze: Sie bilden eine Einheit.
Eine Leseprobe aus dieser speziellen Liebesgeschichte gibt es hier.
Auch, wenn es ein paar Überredungsversuche seitens Alexander gibt:
Du liebst mich, sage ich, du weißt es nur nicht, weil ich auf den ersten Blick nicht dem entspreche, wonach du gesucht hast. In einem Anfall von fehlgeleiteter, therapeutischer Initiative ermutige ich Maria, zuzugeben, dass ich ihrer Wunschvorstellung von einem Partner nicht gerecht werde.
Die Geschichte nimmt immer obskurere Züge an, steigert sich hinein in Selbstvorwürfe Alexanders, Rückblenden in seine Kindheit, Wünsche, die er an Maria richtet. Die lässt mehr oder weniger alles über sich ergehen. Man erfährt nicht viel von ihr, außer, dass sie wohl minderjährig und Prostituierte ist. Alexander denkt, sie vor der Welt zu retten. Das ist unangenehm zu lesen.
Verstörend.
Dear Diary
Das, was einen in diesen Roman hineinzieht, ist die Perspektive, aus der er verfasst wurde. Die tagebuch- bzw. journalhafte Form der Erzählung schmettert Alexanders Gedanken direkt so, wie sie ihm durch den Kopf gehen, dem Leser entgegen. Das ist aufgrund der erzählten Geschichte und seiner Gefühle mehr als nur abschreckend, gleichzeitig aber fesselnd. Das ewige Nichtwegsehenkönnen am Unfallort.
Die Spannung ergibt sich ebenso aufgrund der Tatsache, dass Alexander kein triebgesteuerter Perverser ist – bzw. sich selbst natürlich nicht so darstellt. Er reflektiert, er überlegt. Er zitiert Ingeborg Bachmann (vorzugsweise "Malina"), ordnet seine Notizen nach Kapiteln, sucht Referenzen für sein Verhalten – ja, sogar in der indischen Religionsphilosophie. Fast schon zwischen den Zeilen, nur ganz nebenbei, erfährt man, dass in seiner Familie Missbrauch ein häufiges Thema war. Mutter, Schwester.
Der Roman "Liebesgeschichte" von Thomas Jonigk ist im Verlag Droschl erschienen.
Das scheinbar stabile Umfeld, in dem sich der, wie er sich selbst beschreibt, abstoßend fettleibige Arzt Wertheimer in seiner Praxis, in seinem geregelten Alltag, in seinem Haus, befindet, wird zerrüttet durch Marias Eintreten. Es ist, als träte sie alle aufgestauten Emotionen, alle Ängste, die zuvor unter der Oberfläche gebrodelt haben, los. Offenbar leidet Alexander unter einer bipolaren Störung, wie er nur einmal kurz erwähnt.
Eine Liebesgeschichte, ES IST EINE LIEBESGESCHICHTE. In großen Lettern hält Alexander das in seinen Aufzeichnungen, die einerseits von Schuldbekenntnissen, andererseits von Rechtfertigungen gebeutelt sind, fest.
ES IST EINE LIEBESGESCHICHTE. Eine abstoßende, hässliche, ungesunde. Aber eine Liebesgeschichte.