Erstellt am: 2. 2. 2016 - 15:38 Uhr
10.000 Kinder und die Konsequenzen
"Zurückhaltende Schätzung"
Mindestens 10.000 allein reisende Flüchtlingskinder sind in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden. Die europäische Polizeibehörde Europol befürchtet, dass ein Teil der Kinder Opfer von Kriminellen ist.
Europol bezeichnet die Zahl von 10.000 allein reisenden Flüchtlingskindern, die verschwunden seien, als "zurückhaltende Schätzung". Wie realistisch ist die Zahl für Sie?
Herbert Langthaler: Die Frage ist, was "verschwunden" eigentlich heißt. Ich würde sagen, dass 10.000 Kinder und Jugendliche nicht einfach verschwinden können. Sie sind aus der Statistik verschwunden - das allerdings weist darauf hin, dass diese Menschen nicht kinder- und jugendgerecht betreut werden.
Asylkoordination Österreich
Wie müsste eine solche Betreuung aussehen?
2.000 bis 2.500 Kinder und Jugendliche in Quartieren wie zum Beispiel Traiskirchen sind dort in einer Bundes-Nichtbetreuung. Minderjährige werden außerdem nicht gemäß des Dublin-Übereinkommens erfasst. Sie können also in mehreren europäischen Ländern einen Asylantrag stellen. Wenn sie also nach Italien kommen, dort einen Asylantrag stellen, dann nach Österreich weiterziehen, hier einen weiteren Asylantrag stellen, dann draufkommen, dass ihre Verwandten in Deutschland sind und dorthin weiterziehen, dann sind sie zweimal verschwunden.
Wieviele Flüchtlingskinder sind also in Österreich verschwunden?
Laut Statistik 2.000 bis 2.500. Was Europol hier getan hat, ist darauf hinzuweisen, dass ganz offensichtlich die europäischen Staaten ihrer Pflicht, diese Kinder ordentlich zu betreuen, nicht nachkommen. Was könnte deshalb passieren? Dass solche Kinder und Jugendliche missbraucht werden für sklavenartige Arbeit - denn das gab es vor einigen Jahren schon einmal in Italien - aber natürlich auch im Geschäft mit Sex und im Drogenhandel.
5.000 Kinder und Jugendliche sind in Italien verschwunden. Woher kommt diese enorme Diskrepanz zwischen Italien und den anderen Staaten?
In Italien sind die Strukturen für jugendliche Flüchtlinge nicht so gut. Es gibt viel zu wenig Betreuungsstellen. Die Jugendlichen werden ein bisschen besser registriert als Erwachsene, ziehen dann aber weiter. Das ist sicher ein Großteil dieser 5.000. Aber es gab vor einigen Jahren Fälle, wo die kalibrische Mafia sich solche Kinder angeeignet hat. Sie hat die Obsorge übernommen und die Kinder dann in verschiedenen Arbeitsfeldern sklavenartig eingesetzt, zum Beispiel in der Landwirtschaft.
Geschieht das auch in Österreich?
Natürlich gibt es auch in Österreich Menschenhandel. Es ist aber ein sehr enges Feld, in dem er stattfindet: In der Prostitution und im Drogenhandel. In der Öffentlichkeit wird das meistens so wahrgenommen: Den Mädchen, die zur Prostitution gezwungen werden, gesteht man einen Opferstatus zu. Die jungen Männer im Drogenhandel werden als Täter gesehen und nicht als Opfer von Menschenhandel, was sie aber de facto sehr oft sind.
Wie müsste eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik in Bezug auf Kinder und Jugendliche aussehen?
Dass bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer Behörde geklärt wird, wo die Jugendlichen hinwollen. Wir haben derzeit die Situation, dass Jugendliche zwar mehrere Asylanträge stellen können und nicht zurückgeschickt werden in das Land, wo sie zuerst registriert wurden oder einen Asylantrag gestellt haben, aber sie müssen die Grenzen zwischen diesen Ländern illegal überqueren. Das ist vollkommen absurd. Man müsste die Kinder und Jugendlichen aufnehmen, registrieren, fragen, wo sie eigentlich hinwollen, wo sie Verwandte haben usw. Man müsste alles tun, was notwendig ist, um dem Kindeswohl zu entsprechen - und dann schauen, dass die Kinder dort hinkommen, wo sie wirklich in Sicherheit sind und wirklich hinwollen.