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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

3. 2. 2016 - 14:39

Die großen 10: Postrock

Tortoise, die Popstars des Postrock, haben kürzlich mit "The Catastrophist" ihr siebtes Album veröffentlicht. Und kommen demnächst für ein Konzert nach Wien. Aus diesem Anlass: Eine Liste der zehn besten Postrock-Alben ever.

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Die fast weitläufigste aller Genre-Bezeichnungen, vielleicht gerade mal noch von "Free Jazz" getoppt: Postrock. Ein Begriff, der seit Mitte der 90er durch die Welt geistert und die Überwindung von Grenzen schon im Namen eingeschrieben hat.

So sind die Definitionen vage und die Trennlinien flüchtig, im weitesten Sinne aber meint "Postrock" seit jeher, dass da Menschen mit vermutlich Rock-Vergangenheit an meistens nach wie vor Rock-Instrumentarium neue Organisationsformen von Musik entdecken und ausprobieren: Stücke, in der Regel meist rein instrumental gehalten, die sich nicht mehr an traditionellen Song-Schemata orientieren, sondern lieber ausfransen, mäandern und sich von Musiken wie Dub, Jazz, Kraut oder Minimal Music küssen lassen.

Tortoise aus Chicago sind die Aushängeschilder der Marke "Postrock" - die sich freilich kaum einer der mit diesem Begriff bedachten Acts freiwillig oder großspurig selbst auf die Fahnen schreiben würde. Gerade ist das neue, siebte Album von Tortoise erschienen, es nennt sich "The Catastrophist" und ist wieder recht schön geworden.

Erstmals wird hier auf einer regulären Platte von Tortoise so richtig gesungen, es gibt echte Lieder, und nicht die schlechtesten - für eine Topplatzierung reicht es für "The Catastrophist" aber weder im starken Katalog von Tortoise noch im Kanon des Postrock. Der folgt untenstehend: Penibel ausgemessen und gewogen, im Schweiße gereiht und unerschütterlich.

Übrigens, bevor jemand weint: Nicht dabei sind die Meilensteine "Spiderland" von Slint und "Laughing Stock" von Talk Talk - zwei Platten, die üblicherweise gerne in derlei Rankings auftauchen. Zweifellos haben diese zweifellos fantastischen Alben Postrock vorgedacht, angetriggert und mitbefördert, waren aber bei allem Freigeist doch noch irgendwie Rock (Slint) oder irgendwie Pop (Talk Talk). Protopostrock. Klassiker sind beide Platten ohnehin, man möge sie hören.

10. Do Make Say Think - Do Make Say Think (1998)

Im übermächtigen Schatten der großen Constellation-Geschwister von Godspeed You! Black Emperor ist die kanadische Band Do Make Say Think immer ein wenig schlecht zu sehen gewesen.

Zu Unrecht, ihr erstes Album ist ihr mit Abstand bestes: Elastische Funk-Variationen, die von Tortoise gehört haben dürften, Synthesizer-Ambient, ein da und dort gespenstisch hereinblasendes Saxophon und kosmischer Space-Rock minus Rock umschmiegen sich.


9. Aerial M - As Performed By Aerial M (1997)

Tortoise

Thrill Jockey

"The Catastrophist" von Tortoise ist über Thrill Jockey erschienen. Zu hören am Donnerstag in der FM4 Homebase

Dave Pajo ist der Posterboy des Postrock: Bei Slint hat er ebenso mitgespielt wie bei Tortoise, danach zwischen Royal Trux, Interpol und Billy Corgan der halben Indierockwelt seine Fähigkeiten geliehen. Auf seinem unter dem Namen Aerial M veröffentlichten Soloalbum übt er sich in minimalistischen, Kreise ziehenden Gitarrenmeditationen, die sich aus dem Fingerpicking John Faheys, kargem Todesfolk und der repetitiven Magie des Krautrock speisen. Hypnose zulassen, wegdriften.



8. Rachel's - The Sea and the Bells (1997)

Leider ist diese Band aus Louisville, Kentucky immer ein wenig ein Geheimtipp geblieben. Rachel’s lassen die allerletzten Reste von Indierock in verspukter Kammermusik und neoklassischem Orchester-Getöse aufgehen. Für ihr drittes Album haben Rachel’s ein großes Ensemble an Gästen, alle Violinen, Trompeten und Pauken, ins Studio geladen - es zittert und vibriert, es donnert dissonant und bleibt dabei doch eine kleine, eine zerbrechliche, eine wunderliche Puppenstubenmusik.

Rachel's

Rachel's

7. Trans Am - Futureworld (1999)

Das Ouevre der Clown-Prinzen des Postrock ist ein wechselhaftes und qualitativ schwankendes. Mehrere Platten bieten sich als Kandidat für den Titel "Bestes Album" von Trans Am an, "Surrender to the Night" beispielsweise, oder auch "The Red Line".

"Futureworld" aus dem Jahr 1999, das vierte Album der Band, aber ist ihr durchgehend stärkstes und war zum Zeitpunkt des Erscheinens - als die Blase "Postrock" auch schon ein wenig in Formelhaftigkeit erstarrt war - über drei Ecken und den Umweg ins Gestern auch schon wieder unterwegs in die Zukunft, es war eine alberne Zukunft.

Hier zu erleben: Motorischer Vocoder-Rock, Cheapo-Disco, 8-Bit-Arcade-Game-Elektronika, Kraftwerk-Kinderlieder und Spaß - eine genreunübliche Vokabel. Das Cover zum Album haben Trans Am großzügig von Herbie Hancocks Electrofunk-Klassiker "Future Shock" entlehnt - das sagt vielleicht auch schon etwas.


6. Mogwai - Young Team (1997)

Eine Band, besser als ihr Ruf. Auf ihrem wegweisenden Debüt immerhin, danach hätte man vielleicht auch schon wieder aufhören können. Fehlen dürfen die feisten Schotten mit diesem Album auf keiner Liste zum Thema "Postrock"; einem Album, das die brutale Seite von Postrock vorlebt, mit Fleisch und Blut und Achselschweiß, und dann eben doch noch die Komponente "Rock" hemdsärmelig herausarbeitet.

Gitarrenwand-Bedröhnung im Andenken an My Bloody Valentine, das endgültige Austesten der erhellenden Freuden von Leise/Laut-Dynamiken, dem emotionalen Wechselspiel zwischen filigranen Nachdenkpassagen und bis morgen durchgedrücktem Effektpedal.

Krachrock, No Wave-Souvenirs-Arbeit, White Noise, Murmel-Samples, von sicher sehr alten Geisterbeschwörungs-Mitschnitten gezogen. Den Körper mit scharfem Putzmittel reinigende Musik, Musik, mit dem besonders groben Fleischhammer in die Welt gedübelt.

Young Team Cover

Mogwai

5. Kante - Zwischen den Orten (1997)

Das erste, viel zu wenig bekannte Album der großen Gruppe Kante. Das Album bevor die Hamburger/Berliner Band dann zunächst zärtelnder Pop, dann doch Rock und schließlich Theatermusik werden sollte. Nie war sie besser als auf ihrem Debüt "Zwischen den Orten".

Zwar wird auf dieser Platte auch immer wieder mit Gesang und Text und Lied-Fragmenten hantiert, tatsächlich entsteht hier, ja, "zwischen" Neu!-Kraut, Annäherungen an Gospel und spirituellen Jazz eine Musik, die dem Rock entkommen ist. Ein Monolith aus Glas, einsam steht diese Platte in der Wüste, nichts kann ihr mehr passieren.



4. Godspeed You! Black Emperor -Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas To Heaven! (2000)

Die aus Schrott geborene Erlösung. Innerhalb der inoffiziellen Postrock-Twin-City-Doppelspitze zwischen Chicago und Montreal steht erstere Stadt für den Groove und das lässige Wippen, zweitere für das Aufrühren, den Punk, das Wehtun.

Dies ist das Opus Magnum der nie pflegeleichten Kanadier, gut neunzig Minuten Musik weltferner Herkunft. Ruinen-Tänze, apokalyptische Glücksseligkeit und im Orchestergraben verdaute Schwefelgeräusche aus einer hässlichen Welt. Heilsmusik für Ungläubige.



3. Bark Psychosis - Hex (1994)

Im Zusammenhang mit dieser Platte hat der englische Journalist Simon Reynolds den Begriff "Post-Rock" etabliert. Ein Album, das ganz klar von der Offenheit und der Luftigkeit des Spätwerks von Talk Talk inspiriert ist (nicht bloß weil Talk-Talk-Drummer Lee Harris Teil von Bark Psychosis war).

Hex Cover

Bark Psychosis

In alle Ewigkeiten zerdehnter pastoraler Folk, weite, weihevolle Ambientpassagen, verbeultes Jazz-Gebläse, dünner Murmelsingsang. Sicherlich die "poppigste" Platte hier, dabei auch die Neuerfindung von Pop im ganz großen Stil.

TNT Cover

Tortoise

2. Tortoise - TNT (1998)

Eine Band auf der Höhe ihrer Kunst. Eventuell ist "TNT", das dritte Album von Tortoise, um einen Funken die "bessere" Platte als der Vorgänger "Millions Now Living Will Never Die". Smoother, slicker, cooler, agiler.

Hier ist mehr Jazz, weniger Dub und Elektronik. Cocktailmusik für versierte Salonlöwen, dabei aber eben auch einen minimalen Tick eitel, zu versatil mit sich selbst verspielt. Ein schickes Grooven und Wippen bis ans Ende der Zeit.

1. Tortoise - Millions Now Living Will Die (1996)

Der Standard. Das zweite Album von Tortoise ist die mühelose Verschmelzung und Überlagerung und gegenseitige Durchdringung von Krautrock und Blubberelektronik und Dub und Martin-Denny-Exotika und Lounge-Music, Minimal Music und Musik-Musik.

Klingt dabei nicht schwierig, oberschlau oder versteift. Schaukelt und tönt nach jugendlichem Abenteuern in der Musik. Xylophone und Westerngitarren. Ein zwanzigminütiges Eröffnungsstück für alle Ewigkeiten. Listen and be transformed.