Erstellt am: 1. 2. 2016 - 18:03 Uhr
Aussicht auf den Abgrund
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Ein junger Mann bricht frühmorgens auf, um einen Voralberger Berg zu erklimmen. Oben lauern Gipfel und Absturz zugleich. Der Mann hat nicht vor, aus der Einsamkeit der Natur zurückzukehren. Hans Platzgumers Romane führen oft an menschenabweisende Orte – ins ewige Eis, in die lebensfeindliche chilenische Atacama-Wüste. „Am Rand“, sein siebenter Roman, atmet die klare Luft auf einem schroffen Alpengipfel.
Zsolnay
Hier oben ist es einmal zu einer Katastrophe gekommen. Hier findet der Ich-Erzähler zu einer vielleicht letzten Ruhe, indem er – zeitlich reglementiert vom Sonnenuntergang - seine erschütternde Geschichte zu Papier bringt. So richtet sich die Chronik an den Einzigen, der noch zuhört, an das Du des Lesers, auf dessen Verständnis der Ich-Erzähler hofft.
Verständnis wofür? Am Rand rekapituliert das Leben des verschlossenen Gerold Ebner, der am gesellschaftlichen Rand in den Alpen aufwächst, mit einer Mutter, die ihn nicht versteht und mit Freunden, mit denen er eine Selbsthilfegruppe besucht, die sich Karatekurs nennt.
Das Schicksal hat Gerold Ebner zum zweifachen Mörder gemacht, doch seine Taten würde wohl nicht jeder moralisch verurteilen. In einem Fall kann man die Tat als Erlösung von einem tyrannischen Großvater verstehen, im anderen Fall als Sterbehilfe für einen verunglückten Freund. Zufälle haben ihn auch um alles gebracht, was ihm wichtig war, aber sie haben ihn zuvor auch überhaupt erst die Liebe zu einem verlassenen Kind ermöglicht, das ihm und seiner Freundin in einem Hotel in Frankreich plötzlich über den Weg läuft und fortan von dem Paar als ihr eigenes angesehen und nach Österreich gebracht wird. Mehrmals erzählt Gerold Ebner auch von einem gewissen Hansi Platzgummer aus dem Nachbardorf , der nach Amerika abgehaut ist – so wie der reale Autor Platzgumer, der lange Wanderjahre hinter sich hat, die ihn zu einem der produktivsten und vielseitigsten Musiker gemacht haben, die das Popland Österreich je hervorgebracht hat.
Nun hat der echte Platzgumer das Musikmachen zwischen Indierock, Ambient und puristischem Folk, zwischen Los Angeles, Hamburg und Vorarlberg nicht zuletzt aufgrund des Bedeutungsverlusts von Tonträgern vorläufig aufgegeben und widmet sich vor allem dem pathosentschlackten Schreiben über existentielle Motive wie Tod, Schmerz, Einsamkeit und Errettung.
„Am Rand“ ist ein Pageturner ohne ein Gramm Fett. Er erzählt von den Launen des Schicksals und der Macht der Zufälle, die Menschen zu Entscheidungen bringen, die sie nie mehr korrigieren können oder wollen. Es ist, nach dem auch schon großartigen Drifterroman „Korridorwelt“, das bislang überzeugendste Buch Platzgumers, das ich kenne. Ein Werk, das aus seinen klaren Konstruktionsrahmen die Freiheit schöpft, so wahrhaftig und plausibel wie möglich Auskunft über jene emphatischen Erfahrungen zu geben, die nicht sagbar erscheinen.