Erstellt am: 31. 1. 2016 - 13:20 Uhr
"Das soziale Netz hält!"
Das Jugendgerichtsgesetz (JGG), das in Österreich die Sonderbestimmungen für jugendliche Straftäter und Verdächtige regelt, wurde mit Anfang des Jahres reformiert und ausgeweitet. Es gilt jetzt nicht mehr nur für unter 18jährige, sondern auch für junge Erwachsene bis 21 Jahren. Damit berücksichtigt der Gesetzgeber die Tatsache, dass sich junge Menschen um die zwanzig oft noch die Hörner abstoßen und dabei mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Unter der schwarz-blauen Regierung war die Altersgrenze auf 18 Jahre gesenkt worden – gegen alle internationalen Erfahrungen und mit der Begründung, wer wählen und Auto fahren dürfe, solle auch voll strafmündig sein. Für Andreas Zembatty vom Verein Neustart, der in Österreich Bewährungshilfe, Jugendgerichtshilfe und andere soziale Arbeiten rund um straffällig gewordene Menschen anbietet, war es höchste Zeit, diese Fehlentwicklung wieder zu korrigieren. Er hätte sich gar eine Anhebung in Einzelfällen bis zum Alter von 25 Jahren vorstellen können.
DPA
Mehr Möglichkeiten
Auch mit den anderen Neuerungen ist Zembatty im Großen und Ganzen hochzufrieden: es gibt jetzt mehr Möglichkeiten in der Diversion, einen längeren Strafaufschub zu Ausbildungszwecken und eine Härteklausel beim Verfall von Vermögenswerten, damit diese einem jungen Menschen die Existenzgrundlage nicht entziehen und den Start ins normale Leben verbauen. Vor allem wird man in Zukunft U-Haft bei Jugendlichen so gut es geht vermeiden – Gefängnis soll für jugendliche Verdächtige eine absolute Ausnahme bleiben und muss von Richtern und Staatsanwälten im Einzelfall genau begründet werden. Als Alternative sind im neuen Jugendgerichts-Gesetz betreute Wohngemeinschaften vorgesehen, und die sogenannten „Sozialnetzkonferenzen“.
Die versuchen, das soziale Netz der Jugendlichen zu aktivieren und in die Prävention mit einzubinden. Bevor ein Haftrichter über U-Haft oder nicht entscheidet, kann er, mit Zustimmung des Verdächtigen, eine Sozialnetzkonferenz einberufen, erklärt Neustart-Pressesprecher Zembatty: „Binnen Stunden schwärmen dann unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus und schauen: Was ist denn grundsätzlich an sozialem Netz noch mobilisierbar? Sie kontaktieren diese Personen und bitten sie, an einen Runden Tisch in die Haft hinein zu kommen.”
FM4
Das soziale Netz wird aktiviert
Dort wird von den Bewährungshelfern ein Gespräch moderiert, in dem Eltern, Freunde, Lehrer und Sozialarbeiter verbindliche Vereinbarungen mit dem Verdächtigen treffen, um ihn beim Geradebiegen seines Lebens zu unterstützen. „Der Bewährungshelfer sagt zum Beispiel, er kümmert sich in Hinblick auf den Arbeitsplatz, gemeinsam mit ihm und dem AMS, es werden genaue Kontakte ausgemacht. Ein anderer sagt 'Ich möcht ein bissl schaun auf Dich, weil du bist mir nicht egal. Ich ruf Dich jeden Tag um halb acht an, dass du aufstehst'. Also Sie sehen die Bandbreite.” Das Protokoll wird dem Richter vorgelegt, der möglicherweise noch eine Weisung erteilt – und dann beginnt die intensive Betreuung durch die Bewährungshilfe und durch das soziale Netz.
Gerade in dem Moment, in dem der erste Reflex der Gesellschaft eigentlich eine Distanzierung wäre, wird also genau das Gegenteil gemacht. Das soll vor allem im Kopf etwas auslösen: „Der Jugendliche erlebt plötzlich ein Engagement, das er gar nicht gekannt hat über Jahre oder Monate davor. Er bekommt aber gleichzeitig mit, dass das wegen ihm passiert, das heißt, dass er auch einen Teil bei der Sache beitragen kann und muss.” Statt Verboten, Vorwürfen und Schuldzuweisungen bringt die Zivilgesellschaft also Ressourcen an Betreuung, Hilfe und Herausforderung ein.
Unterstützung statt Liebesentzug
Die Sozialnetzkonferenz, die jetzt gesetzlich festgeschrieben wurde, ist in den letzten Jahren als Projekt entwickelt worden und wird an vielen Gerichten schon länger eingesetzt. Andreas Zembatty kann sich vorstellen, dass Teile der neuen Regelungen mittelfristig auch im Erwachsenen-Strafrecht angewendet werden. Das stünde in der Tradition des Jugendstrafrechts, in dem schon immer liberale Methoden ausprobiert worden seien, die bei positiven Erfahrungen später auch bei Erwachsenen zur Anwendung gekommen sind. Und mit den Sozialnetzkonferenzen hat Zembatty durchwegs positive Erfahrungen gemacht, weil das soziale Netz, „wider Erwarten”, so Zembatty, mobilisierbar sei. Die erste Reaktion der Enttäuschung und Distanzierung werde meist innerhalb der entscheidenden Stunden widerrufen.
„Wir sind positiv überrascht worden über die Potenz dieses, aus unserer Sicht, brüchigen sozialen Netzes. Das heißt, die haben in vielen Fällen wirklich mehr drauf als wir geglaubt haben. Die Erfahrung, dass wir vor einer Mauer des Schweigens stehen oder an Parallelgesellschaften nicht heran kommen, haben wir in der Sozialnetzkonferenz überhaupt nicht gemacht.“
Auch von der Richterschaft erwartet sich Zembatty, dass sie die neuen Instrumente stark nutzen. Zum Einen seien RichterInnen im Jugendbereich im Normalfall sehr engagiert und möchten einem Verdächtigen möglichst nur einmal im Berufsleben gegenüber stehen. „Außerdem hinterfragen sie die Möglichkeiten, die ihnen der Gesetzgeber bietet, sehr kritisch”, meint er, und die Erfahrung der meisten RichterInnen zeige, dass bloßes Wegsperren deutlich mehr Wiederholungsgefahr berge als alternative Maßnahmen. Und zum Anderen sind Sozialnetzkonferenzen auch für Gerichte gute Informationsquellen, um mehr über Verdächtige und ihr Umfeld zu erfahren, als nur das, was im Polizeibericht steht. „Wenn Sie nur die Optik des Polizeiakts haben, da geht es nur um Defizite. Aber durch das Ergebnis der Sozialnetzkonferenz sieht man auch, in welche Richtung es gehen kann.” Richterinnen und Richter wissen also besser, worauf sie mit ihren staatlichen Reaktionen aufbauen können, was auch ihre Entscheidung für oder gegen härtere Maßnahmen erleichtert.