Erstellt am: 29. 1. 2016 - 18:00 Uhr
Die Pause zwischen zwei Atemzügen
Am Cover von Ilir Ferras "Rauchschatten" sieht man eine Person auf einem Boot. Die Person sieht man nur von hinten und sie trägt einen grünen Mantel mit Kapuze auf dem Kopf. Vor ihr ausgebreitet ist das weite Meer. Ein Cover, das ganz gut zum Inhalt passt.
Albanien der 80er Jahre
Schon die ersten Seiten lassen erahnen, warum Ilir Ferra, ein österreichischer Autor mit albanischen Wurzeln, 2012 für sein Debüt mit dem Adelbert-von-Chamisso Preis ausgezeichnet wurde, der an deutschsprachige Werke von Autoren geht, die nichtdeutscher Sprachherkunft sind. Der eineinhalb Seiten lange Prolog beschreibt in atmosphärischer Dichte die Mittagszeit in der albanischen Küstenstadt Durrës, Ferras Geburtsstadt. Die Kinder der Stadt, die sich dem verordneten Mittagsschlaf entziehen, stöbern in den Ruinen eines alten Amphitheaters Münzen auf, die sie bei den Touristen der Stadt gegen Brause oder Kaugummi eintauschen.
"Der Mittagsschlaf ist nämlich wichtig. Für die Straße ist er die Pause zwischen zwei Atemzügen. Die Blendung in dem Moment, in dem die Sonne angeschaut wird. Das Versteck vor dringenden Entscheidungen. […] Ein Aussetzer, der, von außen betrachtet, die Stadt in eine verwüstete Landschaft verschwenderischen Lichts verwandelt."
Hollitzer Verlag
"Rauchschatten" von Ilir Ferra ist im Hollitzer Verlag erschienen
Ein Land im Stillstand
Es sind streng geordneten Verhältnisse im Albanien Anfang der 80er Jahre. Das Land wird vom kommunistischen Diktator Enver Hoxha regiert. Nach italienischer und später deutscher Besatzung im 2. Weltkrieg hat der ehemalige Partisanenführer seit 1944 einen repressiven Staatsapparat aufgebaut, durch dessen geheime Staatspolizei Sigurimi zehntausende Regimegegner ermordet wurden. Zwischen der bewegten Vergangenheit und einer unklaren Zukunft befindet sich das Land in einem seltsamen Zustand abgekapselten Stillstands, indem die Menschen im Schatten des Überwachungsstaates trotzdem ihr Leben leben.
Der verheißungsvolle Westen
In diesem Setting lernen wir den Grundschüler Erlind, seinen Vater Lundrim und dessen Schwiegervater kennen. Lange Zeit ist nicht klar, dass der kleine Junge in "Rauchschatten" die eigentliche Hauptperson ist. In vielen Episoden, die Alltägliches nahe und dicht vermitteln, erzählt Ferra von der Affäre des Vaters mit Jeta, vom mürrischen, kommunistischen Großvater, der am Weg in den Jagd-Klub von Bittstellern hofiert wird, obwohl dessen politischer Einfluss längst verschwunden ist, und natürlich von Erlind, der im italienischen Fernsehen den verheißungsvollen und unerreichbaren Westen vor Augen hat. Was Erlind, wie die anderen Figuren, fühlt, aber noch nicht rational begreifen kann, ist das Eingeschlossen-Sein in einer abgeriegelten Lebenswelt, die Beklemmung, die sich in der bildreichen, poetischen aber nie überfrachteten Sprache Ferras ausdrückt.
"Schwebend, ohne jegliche Eile und ohne zu frösteln, fische ich Plastikflaschen mit grellen Etiketten aus dem Meer, aufgeweichte Zigaretten, um sie auf den Mauern auszubreiten. Nach einigen Tagen in der Sonne sehen die Zigaretten wie neu aus, so als hätte man sie von Touristen bekommen. Ich rauche sie mit meinen Freunden unter schwarzem Himmel, um mit dem Rauch ganze Jahrzehnte zu inhalieren, fremde Welten, die weit hinter der Adria flimmern […]."
Schatten des Regimes
Ilir Ferra hat es geschafft das seltsam bedrückte Leben im repressiven Albanien in starken Bildern zu zeichnen. Da kommt es zum einzigen Freudenausbruch des Großvaters, als dessen Sohn einen riesigen schwarzen Aal mit nach Hause bringt, den dieser verbotenerweise gefangen hat, oder zu einer eindringlichen Episode in der Erlind einen altersschwachen Esel mit einem Stock blutig schlägt, weil seine platonische Jugendliebe zu Fatima nicht erwidert wird.
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"Rauchschatten" ist ruhig erzählt, einen roten Faden, der den Leser durch die Handlung führt, gibt es nicht wirklich. Verschiedene Handlungsstränge unterbricht Ferra mit den Fragmenten anderer, um sie an anderer Stelle weiterzuführen. So entsteht gegen Ende der 160 Seiten ein ausgefranstes Familienporträt. In seinem Debüt fasst Ilir Ferra das Unsagbare in Worte, ohne es direkt auszusprechen. 2012 ist "Rauchschatten" bei Edition Atelier erschienen und hat den Adelbert-von-Chamisso-Preis gewonnen. Gerade ist es in einer vom Autor überarbeiteten Form in Neuauflage im Hollitzer Verlag erschienen. Immer noch eine Empfehlung!