Erstellt am: 22. 1. 2016 - 12:07 Uhr
Animierte Abgründe
Was ist das schlimmste, was einem in der westlichen Welt passieren kann, abseits von politisch oder religiös motiviertem Terror, einer Krebsdiagnose oder drohenden Umweltkatastrophen? Vielleicht ein ganz normaler Tag. Ein Tag, ausgefüllt mit entfremdender Arbeit, belanglosem Smalltalk und diversen Banalitäten, der einen wieder nur einen Schritt dem sicheren Tod näherbringt. Ein Tag, wie ihn Michael Stone in diesem Film erlebt.
Raus aus dem Flugzeug, rein ins Taxi, vergessenswerte Gespräche mit dem Fahrer führen, einchecken im Hotel, im Zimmer dann auf die Decke starren: Mr. Stone ist Vortragsreisender, unterwegs im amerikanischen Nirgendwo, gefangen in einer zermürbenden Routine. Wie Millionen anderer Menschen in der Midlife-Crisis spürt er, dass sich keiner seiner großen Träume jemals erfüllen wird. Er ahnt, dass alle Sehnsüchte unerfüllt bleiben. Darauf erstmal einen Drink, alleine in der Hotelbar.
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Traurige Puppen haben Sex
"Anomalisa" könnte sich spätestens ab diesem Punkt einfach nur als unendlich trauriger Film erweisen, der einem Wahrheiten reinhämmert, die man zurecht gerne verdrängt: Dass wir bloß belanglose Staubkörner im Universum sind. Dass Kommunikation stets zu unaufgelösten Missverständnissen führt und Glück schrecklich vergänglich ist. Dass die Welt letztlich ein einsamer, eiskalter Ort ist, auch wenn man wie Michael Stone eigentlich eine Familie hat und an der Bar dann öfter mit geschäftsreisenden Frauen ins Gespräch kommt.
Aber "Anomalisa" ist ein sanftes, poetisches, verstörendes Kinokunstwerk geworden, das sich dem herrlich verschrobenem Autor und Regisseur Charlie Kaufman und dem Animator Duke Johnson verdankt. Die beiden Filmemacher lassen die alltägliche Tristesse nämlich von Puppen spielen. Und die sehen fotorealistisch aus, reden, drinken, pinkeln wie normale Menschen. Und haben auch Sex, in einer der eindringlichsten, kläglichsten und schönsten Filmszenen der letzten Zeit.
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Vom Hörspiel zum Stop-Motion-Kunstwerk
Sieben Jahre sind vergangen, seit Charlie Kaufman mit der verschachtelten Tragikomödie "Synecdoche, New York" (inklusive dem verstorbenen Philip Seymour Hoffman in der Hauptrolle) als Regisseur einen kapitalen Flopp an den Kinokassen ablieferte. Zuvor war er als Spezialist für bizarre Drehbuchideen noch zum Kritikerliebling mutiert, Freunde wie Spike Jonze oder Michel Gondry hatten seine Skripts zu "Being John Malkovich" oder "Eternal Sunshine Of The Spotless Mind" in moderne Indieklassiker verwandelt.
Aber Hollywood verzeiht Niederlagen nicht, erst recht in der gegenwärtig angespannten Finanzierungssituation. Charlie Kaufman musste sich also mit TV-Jobs durchschlagen und brachte sein Herzensprojekt "Anomalisa" als Hörspiel auf die Bühne, auf Initiative des famosen Filmmusik-Komponisten Carter Burwell. Erst eine Crowdfunding-Aktion via Kickstarter ermöglichte die Umsetzung in einen Animationsfilm für Erwachsene. Die lange Wartezeit hat sich jedenfalls gelohnt und einen besseren künstlerischen Partner als den jungen Stop-Motion-Künstler Johnson hätte Kaufman nicht finden können.
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Surreale Brechungen und Traumebenen
Wie gesagt, die spartanische Geschichte an sich pendelt an der Grenze zur Unerträglichkeit, zumindest wenn man ach-so-abgeklärte Standpunkte verlässt und sich auch die Auswegslosigkeit des eigenen Seins zugesteht. Aber Charlie Kaufman, der wie die Autoren Sibylle Berg, Heinz Strunk oder Michel Houellebecq ein Sprecher für die bewusst jämmerlichste Form des Existentialismus ist, verwandelt grausame Alltagsszenarien in Magie. Und er bringt natürlich wieder gewisse surreale Brechungen und Traumebenen ins Spiel, die sich durch all seine Filme ziehen.
Denn schon bald wird einem klar, dass alle Puppen in diesem Film dasselbe starre Gesicht tragen, Frauen wie Männer, und der Schauspieler Tom Noonan dieser feindlich anmutenden Masse seine Stimme leiht. Nur Michael Stone sticht als Individuum aus dem Kollektiv heraus, im Original personifiziert von David Thewlis. "Anomalisa" wiederum, der der resignierte Ehemann in jener Nacht in der Hotelbar begegnet, wird von der großartigen Jennifer Jason Leigh gesprochen. Was es mit der Titelfigur auf sich hat, möchte ich aber keinesfalls verraten. Denn an diesem stillen Meisterwerk, das wohl auch Franz Kafka gefallen würde, führt ohnehin kein Weg vorbei.