Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "180 Grad Gefühlsschwankung"

Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

24. 1. 2016 - 14:15

180 Grad Gefühlsschwankung

Sarah Kuttners neuer Roman "180 Grad Meer" hat mehr eine Charakterstudie als eine Geschichte zu bieten.

Am Ende wird alles Rosamunde Pilcher. Im südenglischen Eastbourne an der Küste hat die Hauptfigur Jule einen Job gefunden, ehrenamtlich betreut sie im "Seashell Retirement Village" SeniorInnen. "Ich mag alte Menschen lieber als alle anderen Menschen. Die sind schon irgendwie durch mit dem ganzen prätentiösen Teil des Lebens, sie haben sich oft bereits abgefunden mit dem Jetzt, ihre Masken sind größtenteils schon abgebröckelt, darunter nur noch purer, alter Mensch."

Das Cover zu Sarah Kuttners Roman zeigt das Meer und den Horizont und trägt einen Aufkleber mit Kuttners Porträt

S. Fischer Verlag

Sarah Kuttners Roman "180 Grad Meer" ist am 31.12.2015 bei S. Fischer erschienen. Eine Leseprobe findet sich hier

Dass diese Jule sich ihre Zuneigung zu jemandem eingesteht, ist schon ein großer Schritt. Sarah Kuttners Buch ist eine Charakterstudie über eine Frau Anfang Dreißig, über Jule, die nur von ihrer Mutter "Juliane" gerufen wird und die soviel Wut in sich trägt - u.a. und allen voran auf ihre Mutter -, dass sie mit Liebe ganz schlecht klarkommt. Soweit die durchaus ungewöhnliche Charakterkonstellation, die mit vielen Selbsterklärungen Jules beginnt.

"Ich bin kein schöner Mensch. Meine Aura ist irgendwie zahnfarben. Nicht offwhite, nicht creme. Nicht einmal neutral beige", so lauten die ersten Sätze. Schnell wird klar, dass sich Jule nicht auf Äußerlichkeiten bezieht. Ihr größter Feind ist sie sich selbst, als sie ihren Freund Tim mit einem Barbesitzer betrügt und schließlich nach England abhaut, wo sie sich Zuflucht in der WG ihres Bruders Jakob erhofft.

Die Mechanismen, die bei Jule in jenen Beziehungen greifen, die ihr nahegehen, sind erbarmungslos. In den Momenten, wo sich sich nach Liebe sehnt, ziehen sich ihre Mauern hoch:
"und nun sitze ich, wie zur Bestrafung, mit dem Rücken zu Tim und starre ihn heimlich an. Vermutlich fühlt auch er sich bestraft, denke ich und ärgere mich nur noch mehr. Tim soll nicht bestraft werden, Tim hat keine Strafe verdient, Tim muss liebgehabt werden, er ist der einzige Mensch in meinem Leben,
dessen Nähe ich will, ertrage."

Aber weit kommt Jule mit ihrer Selbstreflexion ebenso wenig wie Sarah Kuttner diesmal eine herausragende Handlung einfiele. Im Gegenteil: Der Inhalt des Romans ließe sich in drei Sätzen kurzfassen. Der Musikerkollege Daniel, Barbesitzer Andreas, Freund Tim, Mutter Monika und Vater Michael, Mrs Knox - nacheinander wird Jules Umfeld vorstellig und jede Person in einem Kapital abgehandelt. Das bisschen Handlung kommt somit jeweils ein Stückchen voran.

Sarah Kuttner

Erik Weiss

Keine Frage, Sarah Kuttner kann schreiben und es gelingen ihr auch einige tolle Szenen an Intimität. Dann wiederum bringt sie mit einem Satz ein ganzes Szenario auf den Punkt ("Rose wuchtet sich schnaufend vom Küchentisch hoch und verlässt watschelnd die Küche, wobei ich ihr ein bisschen verträumt hinterhersehe."). Aber treffende Passagen bedeuten Schreibarbeit und schneller kriegt man Seiten mit allerlei Gedanken voll.

Seitenweise füllt Kuttner das Buch mit Belanglosem. Im Plauderton finden sich Erörterungen zu London, der Freundlichkeit der Engländer, und Abhandlungen zu Wie-stehe-ich-zu-Bahnfahren und wie-berührt-mich-das-Meer. Das passt zwar genau zu Jule, die sich nicht mit sich auseinandersetzt, sondern einfach weitermacht, es ist aber öd. Auch wenn der Verlag das Buch als "tragikomische Road-Novel" bewirbt, so kauft sich Jule gerade einmal ein Flugticket und auf ihren Humor setzt Kuttner andernorts, in ihren Tweets.