Erstellt am: 20. 1. 2016 - 21:14 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 20-01-16.
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.
Heute Vormittag war das Begräbnis meiner Tante Ursula. Sie wurde über 90 und war die letzte ihrer Art, die der Pflicht-Besuchs-Tante aus der Kinderzeit, an die man sich eh bald als unverzichtbar gewöhnt. Ursula war die Frau der Bruders meiner Oma, ihre Enkel waren das nächste an Cousins und Cousinen, das ich hatte.
Als junges Mädchen war sie mit ihrer Familie aus Breslau vertrieben und von meinem Großonkel Karl nach Wien weggeheiratet worden. Wrocław, das aus Breslaus Ruinen erstand, ist seit wenigen Tagen die Kulturhauptstadt Europa. Die Ursel hat das nicht mehr mitbekommen, das letzte Jahr über hatte sie sich bereits in einer Innenwelt verschanzt, die in ihrer Vergangenheit angesiedelt war. Sie hätte sich in Vollbesitz ihrer Kräfte aber auch nicht geäußert. Die Vertreibung war so traumatisierend, dass sie sich enthielt. Im Gegensatz zum Onkel, der sich immer lautstark äußerte; und dabei gern in seiner Vergangenheit als junger Panzerfahrer in Rommels Wüstenarmee aufhielt.
Der Onkel war groß und laut; er hatte im Krieg seinen Geschmacksinn verloren – angesichts der Bedeutung von Essen als sozialer Familien-Kitt (Stichwort Kuchenjause) ein großes Handicap. Sein Gegenspieler war nicht die ebenfalls große und nachgebende Ursula, sondern seine Schwester, meine Oma. Die war auch groß und laut und hatte keinen Respekt vor ihrer Ansicht nach ungebührlichen politischen Äußerungen. Sie hatte sich von einem anderen, einem mitlaufenden Äußerer, ihrem Mann, geschieden um mitten im Krieg nach Wien zu ziehen, allein mit einer kleinen Tochter; sie hatte keine Angst vor gar nichts.
Meine Schwester brachte es heute auf der Nachhause-Fahrt auf den Punkt. Sie habe sich immer gefragt, wozu diese ritualisierten Besuche der beiden Sippen-Linien gut waren, wenn sich die beiden streitbaren Wortführer letztlich fast jedes Mal in die Haare kriegten. Und dass sie es heute wisse: es geht um dieses erst später relevant werdende größere Ganze, das was Familie ausmacht, das was nötig ist, um die „Wo komm ich her?“-Frage zu klären. Und mit der Cousine und dem Cousin haben wir uns ja auch immer ganz gut verstanden. Viel unerklärlicher war da die Anwesenheit von Ursulas Mutter, die bei ihnen im Kabinett wohnte: eine verwirrt wirkende, trübäugige alte Frau, die ein Deutsch sprach, das wir nicht verstanden. Der Tante war dieses schlesische Idiom auch zeitlebens anzuhören, ihr gut artikulierter Singsang fügte sich ein im vielstimmigen Familienchor – ihre Mutter blieb schon rein sprachlich immer außen vor.
Zusammengehalten wurde die Familie von den Frauen: meiner Oma, der Tante und den beiden Töchtern der beiden. Die sich im Übrigen mit einem durchaus ähnlichen Typus Mann vermählten und vermehrten, mit politisch aufgeklärten, durch Ruhe und Beständigkeit punktenden Menschen; die beiden waren eine Art Gegenmodell zur vorigen Generation, die sich mit lautstarker Positionierung durchsetzen mussten, in einem Nachkriegs-Österreich der Trümmerfrauen und -männer.
Ursula war die letzte, die noch im Herzen des Nachkriegs-Simmering, der Hasenleiten-Siedlung wohnte. Kinder und Enkel haben sich längst in alle Richtungen zerstreut. Die Hasenleiten galt einst als Bollwerk des roten Wien, heute ist die mehrheitlich in FP-Hand – man stellt erstmals den Bezirksvorsteher. Auch das ist an Ursula bereits vorbeigegangen.
An mir nicht. Ich hatte mit diesem Teil der Stadt über die monatlichen Besuche in meiner Kindheit keinen Kontakt und seitdem noch weniger. Trotzdem fühle ich mich betroffen. Ich schaue auch wesentlich genauer auf das Kulturhauptstadtjahr in Breslau/Wrocław . Es geht um das was meine Schwester gesagt hat, um das größere Ganze einer Familie, um kulturelle Erweiterung durch Verwandtschaft. Die Tante war die letzte ihrer Art; und in dieser Erkenntnis liegt ihre Hinterlassenschaft.