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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

19. 1. 2016 - 14:18

Ohne Stock geht es nicht

Seit Anfang des Jahres soll in Österreich umfassende Barrierefreiheit umgesetzt sein. Was heißt das konkret für Sehbehinderte?

FM4 Auf Laut: Wie barrierefrei ist Österreich?

Und was ist noch zu tun? Claus Pirschner spricht darüber mit Gästen und AnruferInnen. Zu Gast im Studio sind Florian Wibmer vom Verein österreichischer gehörloser Studierender (VÖGS) und Elisabeth Magdlener vom Verein CCC - Change Cultural Concepts.

Transkript der Sendung

Ein Transkript der gesamten Sendung gibt es hier als .pdf-Datei zum Download

Sich auf den Grazer Jakominiplatz zu stellen und für eine Minute die Augen zu schließen ist schwierig. Die Geräuschkulisse wird plötzlich enorm. Straßenbahnen und Busse fahren, RadfahrerInnen und Taxis sausen vorbei. Hier voranzukommen, ohne sehen zu können, ist selbst mit nur kurzfristig geschlossenen Augen eine höchst unangenehme Vorstellung. Melanie Zraunig zum Beispiel meidet den Jakominiplatz, wie auch den Hauptplatz in Graz, denn sie hat eine stark eingeschränkte Sehfähigkeit.

Seit 1. Jänner 2016 soll nach einer zehnjährigen Übergangsfrist in Österreich Barrierefreiheit flächendeckend umgesetzt sein. Das heißt, dass Gebäude, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände oder auch Informationen wie Speisekarten für Menschen mit Beeinträchtigungen barrierefrei zugänglich sein sollten. Das meint Rollstuhlrampen an Gebäuden genauso wie Leitsysteme für Blinde oder den Zugang zu Informationen durch leichte und verständliche Sprache.

Melanie Zraunig macht zurzeit ein freiwiliges soziales Jahr am Odilieninstitut in Graz

Radio FM4

Melanie Zraunig macht zurzeit ein freiwilliges soziales Jahr

Die Umsetzung dieser Barrierefreiheit mag für manche UnternehmerIn wie ein Ärgernis erscheinen, ausgedacht von einer überbordenden Bürokratie. Aber ist man nur für auf einem Alltagsweg mit einer sehbehinderten jungen Frau unterwegs, wird klar, was sie täglich meistert und meistern muss. Melanie Zraunig hat uns ein Stück mitgenommen auf einem ihrer alltäglichen Wege.

Absurde Situationen und hilfreiche Details

"Ich bin am Hauptplatz gestanden, jemand kommt zu mir her, nimmt mich und bringt mich zu irgendeiner Bim", erzählt Melanie Zraunig. "Ich bin total erschrocken - bin irgendwo gestanden, sie war wieder weg, und ich habe nicht mehr gewusst, wo ich bin." Die Passantin wollte Melanie Zraunig eigentlich nur helfen. Derart absurde Situationen passieren blinden oder sehbehinderten Menschen nach wie vor. "Viele Menschen ohne Beeinträchtigungen trauen Menschen mit Beeinträchtigungen wenig zu", stellt Melanies Kollege Bernhard Affenberger fest. Und so manche Hilfe ist zwar gut gemeint, aber falsch.

Melanie Zraunig hat eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen und leistet zurzeit ein freiwilliges soziales Jahr am Grazer Odilien-Institut, das Menschen mit Behinderung betreut. Dort unterstützt sie im betreuten Wohnen andere Menschen, die dasselbe Handicap haben. Diese Arbeit gefällt ihr sehr.

Oft sind es nur einfache Dinge, kleine Details, die den Alltag wesentlich erleichtern. "Im Wohnheim waren die Müllbehälter nicht in Brailleschrift gekennzeichnet. Jetzt haben wir sie beschriftet", sagt Melanie Zraunig. "Jeder kann jetzt selber seinen Müll wegtragen. Das haben die BewohnerInnen vorher zwar auch gemacht, mussten aber jedes Mal den Betreuer fragen, welche Tonne wofür bestimmt ist."

Leitliniensysteme sind nicht einheitlich

Mit ihrem weißen Langstock ist Melanie Zraunig sehr schnell unterwegs. Bei Aus- und Eingängen gelingt es mir nicht, ihr zuvorzukommen und die Türe zu öffnen. Ich bin unhöflich. "Das passt schon", lächelt Zraunig. Den Stock zu benutzen war für sie eine Überwindung. Zuhause braucht sie ihn nicht, soviel Sehkraft hat sie noch. Doch unterwegs in Graz habe sie sich an den Stock gewöhnen müssen. "Ohne Stock geht es einfach nicht", stellt sie fest. "Mittlerweile macht es mir auch nichts mehr aus, mit dem Stock zu gehen. Aber wenn man achtzehn Jahre alt ist, ist man in einem Alter, wo man das nicht mag, wenn die Leute blöd schauen. Aber ich muss sagen: In Graz hat mich noch nie jemand blöd angeredet. Ganz im Gegenteil. Kinder fragen, wozu ich den Stock brauche. Voll super."

Leitsystem für sehbehinderte Menschen in Graz am Gehsteig

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Wenn sie mit dem Stock auf der Straße geht, nutzt Melanie das Leitliniensystem zur Orientierung. "Leitliniensystem" klingt nach einer großen Angelegenheit. Es sind Rillen am Boden, auf den Gehsteigen. "In Graz gibt es das Leitliniensystem fast überall, in Klagenfurt ist es schwieriger." Im Winter erschwert es der Rollsplitt, die Rillen richtig zu erspüren und Melanie muss langsamer gehen. Wo keine Leitlinie vorhanden ist, geht sie Gebäudemauern entlang. Abends orientiert sie sich an Lichtern und nutzt einen Trick: Mit der Zunge schnalzt sie und vermisst so den Raum um sich. Bei Straßenbahnen kennzeichnen Noppenfelder auf dem Boden die Einstiegsbereiche. Aber österreichweit einheitlich sind diese nicht.

Melanie Zraunig mit KollegInnen geht entlang eines Leitsystems am Gehsteig vor dem Grazer Odilieninstitut

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Melanie mit ihren KollegInnen Anna und Bernhard

Wie nähert sich Melanie Zraunig Wegen an, die sie noch nicht kennt? "Ich lasse mir den Weg von einem Betreuer erklären und gehe die Strecke zwei oder drei Mal ab, dann funktioniert es." Bei Bahnfahrten muss man einen Tag zuvor anrufen, um eine Umstiegshilfe zu bekommen. Bei kurzfristigen Unternehmungen sind sehbehinderte Menschen auf ihre BetreuerInnen angewiesen. "Ein Hindernis am gewohnten Weg, auch wenn es nur ganz klein ist, reicht, dass die Person die Orientierung verliert", weiß Zraunigs Kollegin Anna Martinelli.

Vieles bedenkt man als Sehende nicht. Schiebetüren sind zu leise, um sie schnell zu finden. Parkplätze sind gefährliche Orte, generell sind geparkte Autos Hindernisse. Der Nachhauseweg vom Supermarkt, wo Melanie Zraunig regelmäßig einkauft, erfordert daher besonders hohe Konzentration.

Orientierung bieten die Informationen in Brailleschrift, die am Geländer angebracht sind, an dem man sich auch gut anhalten kann

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Information in Brailleschrift an einem Handgeländer gibt Orientierung

Beseitigung von Barrieren kann man nicht einklagen

Für eine umfassende Barrierefreiheit in ganz Österreich braucht es noch viel. Vor allem im ländlichen Gebiet fehlen Adaptionen für Barrierefreiheit noch vielerorts und auch im Tourismus herrscht Aufholbedarf, weiß Rudolf Zangl, der stellvertretende Geschäftsführer des Odilien-Instituts. "Wir müssen die Gesellschaft aktiv gestalten. Das beginnt bei Kleinigkeiten wie Baustellenabsperrungen, die nicht kommuniziert werden, und setzt sich beim Thema Auskünfte fort. Es nützt nicht zu sagen: Gehen Sie da links vor und dann hinüber. Hilfreich wäre zu sagen: Gehen Sie zwanzig Schritte auf zwölf Uhr geradeaus den Gang entlang und nach der dritten Türe auf der linken Seite biegen sie links ab."

Das Gesetz schreibt jetzt Barrierefreiheit vor. Doch es gibt in Österreich zahlreiche Ausnahmen. Verunfallt zum Beispiel eine Person wegen einer Barriere, kann nur der erlittene Schaden eingeklagt werden. Aber nicht die Beseitigung der Barriere selbst.

FM4 Auf Laut: Barrierefreies Österreich seit Jahresbeginn?

Seit 1. Jänner müssen nach einer zehnjährigen Übergangsfrist Gebäude in Österreich barrierefrei sein - etwa durch Rampen oder barrierefreie WCs. Mit Barrierefreiheit ist auch Zugang zu Informationen durch leichte und verständliche Sprache gemeint. Doch es gibt in Österreich zahlreiche Ausnahmen und die Beseitigung von Barrieren kann nicht eingeklagt werden sondern nur der erlittene Schaden.

Wie barrierefrei ist Österreich und was ist noch zu tun?
In FM4 Auf Laut diskutiert Claus Pirschner darüber mit Gästen und Anrufenden. Zu Gast im Studio sind Florian Wibmer vom Verein österreichischer gehörloser Studierender (VÖGS) und Elisabeth Magdlener vom Verein CCC - Change Cultural Concepts. Elisabeth lehrt im Bereich Queer DisAbility und ist Tänzerin.

Die Nummer ins Studio zum Mitdiskutieren: 0800 226 996