Erstellt am: 18. 1. 2016 - 18:41 Uhr
The daily Blumenau. Monday Edition, 18-01-16.
#demokratiepolitik
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.
Es ist historisch nur allzu gut belegt, dass auch der klügste politische Publizist nicht in der Lage ist, mehr als ganz vage in die Zukunft zu sehen. Wer also ein paar Mal mit Prognosen recht behält, braucht vor allem eines: Demut. Die könnte verhindern, dass man mit Schaum vorm Mund eine Minderheit als Meinungsführer bemalt und zum niederzuknüppelnden Feindbild erklärt.
Das Jahr in dem Österreich kippt
Der tipping point, der Kipp-Punkt ist der Moment, an dem eine Entwicklung unumkehrbar wird. Die Behauptung aufzustellen, so ein Punkt wäre erreicht, ist schon in der Naturwissenschaft durchaus umstritten (Zahlen und Daten unterliegen, anders als es manch' Bursche behauptet, ja immer einer Interpretation), im aktuellen gesellschaftspolitischen Kontext jedoch noch viel gewagter.
Jüngst hat mich Michael Mayer @mayer_michl daran erinnert, dass ich mich diesbezüglich schuldig gemacht hatte: "2009 hat @martinblumenau zu dem jahr ernannt, in dem österreich kippt. 7 jahre später scheints so weit zu sein. fm4.orf.at/oesterreichkippt" twittert er.
2009 hat @martinblumenau zu dem jahr ernannt, in dem österreich kippt. 7 jahre später scheints so weit zu sein. https://t.co/15P81XaCbW
— Michael Mayer (@mayer_michl) 15. Januar 2016
Viel mehr als die Gegenwart hochzurechnen geht halt nicht
2009 hatte ich versucht, anhand von scheinbar nebenrangigen Wendungen, Umdeutungen und Entwicklungen die zunehmende Unumkehrbarkeit des Drifts des hiesigen Diskurses zu den Themen Nationalismus, Xenophobie und Demokratie-Unlust auszuloten. Damals geäußerte Vermutungen zu einer postdemokratischen Praxis sind aktuell von dem, was in Ungarn und Polen eingetreten ist, bereits überholt; damals angestellte Überlegungen zur Geiselhaft einer sprachlichen Umformung, in der sich Österreich befand, muten naiv an. Anderes, damals scheinbar wichtiges wiederum, fand genau gar keine praktische Fortsetzung.
Trotzdem könnte ich aus den so gelabelten Einträgen von 2009 sicher dutzende Beispiele herauskitzeln, um so etwas wie eine seherische Prognose zu belegen. Und eben auch recht viele (wenn auch keine epischen) fails. Wie's halt so ist, wenn man die Gegenwart hochrechnet und sich die Zukunft dann nicht daran halten mag, weil zahlreiche (wichtige) Parameter noch gar nicht erkennbar waren.
Zahltag für das Bobo-Gesindel
Ich erwähne das deshalb, weil etwa zeitgleich zu Mayers Hinweis eine neue Kolumne online ging: das Portal vice.com/alps, also das Österreich-Franchise von Vice, die wahrscheinlich beste, jedenfalls unverzichtbarste Site jenseits öffentlich-rechtlicher Angebote veröffentlicht zweiwöchentlich eine Anklageschrift von Manfred Klimek, dem streitbaren Wiener Expat mit dem Hang zur scharfen Beobachtung und auch dem zum harten Austeilen. Sie heißt Zahltag und Klimek nützt den Starter zu einer Anklage im klassischen Stil: "Dafür werde ich sorgen. Ich klage an!" sind eindeutige Schlusssätze.
Feindbild sind die Wiener Bobos, laut Klimek mehrheitsführende Meinungsmacher, die durch ihre Weltfremdheit die aktuelle gesellschaftspolitische Krise hauptverursacht haben. Klimek stützt sich in seiner Hass-Schrift auf die Macht, die ihm seine Prognose-Kraft verleiht. Er hat im Vorjahr in einigen Facebook-Postings sowohl Terrorattentate, an denen als syrische Flüchtlinge eingereiste Verbrecher beteiligt sind, als auch Übergriffe durch einige der vielen jungen, vom europäischen Wertesystem überforderten Migranten vorausgesagt und damals auch schon die Reaktion einer (stark verkürzten und nie ausgeführten) "Linken" vorhergesagt.
Falter
Nun ist das in etwa so schwer gewesen, wie vormals eine Niederlage des ÖFB-Teams unter Constantini zu prognostizieren. Selbst die exemplarisch druckserische Haltung einiger Medien im Fall #koelnhbf war aufgelegt. Geschehen ist all das aber nicht wegen der (vielleicht zu) weichen Haltung einiger Innerstädter (die in Österreich weder in politischer noch medialer Hinsicht über irgendwelche Mehrheiten oder irgendeine Macht verfügen; selbst der Falter hackt mit seinem Köln-Cover deutlich in die Gegenrichtung), sondern aus anderswo ausgeheckten strategischen Gründen. Und es wäre auch geschehen, wenn sich das Kölner Hipster-Pack vor dem Silvesterabend der dortigen Hool/Pegida-Szene angeschlossen hätte. Auf diese Geschehnisse können ausschließlich große Entscheidungen, die bei der politisch/ökonomischen Elite, also den ganz großen Playern liegen, halbwegs Einfluss ausüben.
Vegane Radfahrer als Feindbild eines nationalen Europas
Alles andere ist also Mütchen-Kühlen, komplementärer Sarrazynismus. Nichts ungewöhnliches für Vice - und auch für Klimek sicher nur eine weitere Fingerübung. Elchmäßig gegen die "Eselsalamifresser"-Bagage anzuschreiben ist legitim; und sicher auch vergnüglich. Ich weiß nur nicht, ob es sinnstiftend ist, mittenrein in ein aufgeheiztes Klima eine Sündenbockgruppe zu installieren, auf die draufzuhauen derart mehrheitsfähig ist.
Zumal die Bekämpfung von veganen Radfahrern, die sich vielleicht auch noch für die Durchmischung von Kulturen aussprechen, aktuell eigentlich auf anderen Fahnen ganz vorne steht, in Runenschrift quasi. Auf den polnischen etwa; zumindest wenn es nach dem Außenminister geht.
Nun ist ein biedermeierndes, weltabgeschottetes Neospießertum nicht deshalb sakrosankt, weil es gute Trends setzt oder von radikalen Nationalisten gehasst wird. Es darf, soll und muss weiterhin dem Spott, den es verdient, ausgesetzt werden. Wenn das Bashing aber als Monokultur daherkommt, wird es eng; und kalt, wie immer, wenn persönlicher Hass sich mit Sendungsbewusstsein mischt.