Erstellt am: 16. 1. 2016 - 14:12 Uhr
Prepare to cry
Joel hört einfach nicht auf zu schreien. Er wimmert und brüllt vor Schmerzen, so laut, dass ich es fast nicht mehr aushalte. Und ich kann nichts tun. Ich kann rund um sein Bett gehen, ihm etwas zu trinken anbieten, aus dem Fenster schauen. Wenn Joel doch einen Schluck Saft nimmt, erbricht er sofort alles. Bis er schließlich doch aufhört zu weinen und einschläft. Ein kleines Wunder.
"That Dragon, Cancer" erzählt die Geschichte der Familie Green, bei deren Sohn Joel im Alter von einem Jahr Krebs ausbricht. Vier Jahre lang kämpfen die Greens um das Leben ihres Sohnes, der wegen eines Hirntumors nie das Sprechen lernt. 2014 stirbt Joel schließlich. Der Kampf gegen den bösen Drachen Krebs ist verloren.
Numinous Games
Spielemachen als Bewältigungstherapie
Bereits während Joels Krankheit beginnt sein Vater Ryan damit, seine Erfahrungen in Form eines Computerspiels zu verarbeiten. Gemeinsam mit seiner Frau Amy und finanzieller Unterstützung aus der Spielebranche, aber auch von über 3000 Unterstützern auf Kickstarter, arbeitet er drei Jahre an "That Dragon, Cancer". Es ist ein Spiel über das Leben mit einer Tragödie, das uns in einzelnen Szenen in den Alltag der Greens mitnimmt.
Wir schubsen Joels Schaukel auf dem Kinderspielplatz, wandern durch Klinikflure und sitzen bei ihm am Krankenbett. Manche dieser Szenen sind surreal und symbolisch, andere sehr real und autobiografisch. Echte Tonbandaufnahmen und Tagebucheinträge bringen uns ganz nah an diese Familie. Dabei wechselt die Stimmung des Spiels von intimen Augenblicken alltäglicher Normalität im Angesicht des Todes zu herzerreißenden Momenten der Verzweiflung, aber auch lebensbejahendem Glück.
One Life left
Sehr viel tun können wir in den meisten Szenen von "That Dragon, Cancer" nicht. Meist beschränkt sich unsere Interaktion auf die Bewegung durch die Szenen, auf die Wahl einer Perspektive oder das Aktivieren einzelner Szenen oder Dialogschnipsel. Auch in den wenigen Abschnitten, in denen traditionelle Spielmechaniken zum Einsatz kommen, bleibt unser Einfluss auf den Fortgang der Geschichte unbedeutend. Doch gerade die bewusste Erfahrung dieser Ohnmacht wiegt schwer in einem Medium, das von Interaktion lebt: Hier gibt es nichts zu gewinnen, keine Chance auf Meisterung und ein Happy End.
Stattdessen ist "That Dragon, Cancer" eine Lektion in Sachen Empathie, bringt uns nahe an echte Menschen und ihre Gefühle. Das ist oft herzzerreißend schmerzhaft, aber, letzten Endes, auch tröstlich. In "That Dragon, Cancer" geht es weniger um den Tod als um das Leben, um die Momente, die bleiben, und die Hoffnung auch im Angesicht des Unfassbaren. Dass Joels Eltern ihren christlichen Glauben, der die beiden in unterschiedlichem Ausmaß durch diese Zeit begleitet hat, nicht ins Zentrum ihrer Geschichte stellen, sondern durchaus differenziert thematisieren, macht das Spiel auch für unreligiöse Spielerinnen und Spieler absolut empfehlenswert.
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Abschied und Denkmal
"That Dragon, Cancer" ist für Windows, Mac und Ouya erschienen.
Die Dokumentation "Thank you for playing" wirft einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Spiels und seine Macher.
Computerspiele werden erst dann Kunst sein, wenn sie uns zum Weinen bringen, soll Steven Spielberg gesagt haben. Tatsächlich ist "That Dragon, Cancer" ein erschütternd persönliches Erlebnis, das keinen unberührt lassen wird. Es gibt keine einfachen Antworten, sondern zeigt echte Menschen und wie sie mit ihrem Schicksal umgehen. Dass es dabei nicht deprimiert und zu Boden drückt, sondern trotz aller Traurigkeit auch erhebt und tröstet, macht es zu einem außergewöhnlichen Erlebnis.
Ryan und Amy Green haben aus ihrer tragischen Erfahrung ein intimes Kunstwerk geschaffen, das zugleich ein Denkmal und ein Abschiedsgeschenk für ihren Sohn geworden ist. "That Dragon, Cancer" ist ein Spiel, das man nicht so schnell vergisst.